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Schiller, Friedrich: Der Geisterseher. Leipzig, 1789.

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Nach allem Vorhergegangenen.

"Und wenn wir eine schlimme Handlung von
einem Menschen sehen, so ist diese Handlung gerade
das einzige Gute, was wir in diesem Augenblick
an ihm bemerken."

Das klingt sonderbar.

"Lassen Sie uns ein Gleichniß zu Hülfe neh¬
men. Warum nennen wir einen trüben, neblich¬
ten Wintertag einen traurigen Anblick? Ist es
darum, weil wir eine Schneelandschaft an sich selbst
widrig finden? Nichts weniger; könnte man sie
in den Sommer verpflanzen, sie würde seine Schön¬
heit erheben. Wir nennen ihn traurig, weil dieser
Schnee und dieser Nebelduft nicht da seyn könnten,
wenn eine Sonne geschienen hätte, sie zu zerthei¬
len, weil sie mit den ungleich größern Reizen des
Sommers unvereinbar sind. Der Winter ist uns
also ein Uebel, nicht weil ihm alle Genüsse man¬
geln, sondern weil er größere ausschließt."

Vollkommen anschaulich.

"Eben so mit moralischen Wesen. Wir ver¬
achten einen Menschen, der aus dem Treffen flie¬
het, und dem Tode dadurch entgeht, nicht weil
uns der wirksame Trieb der Selbsterhaltung mi߬
fiele, sondern weil er diesem Triebe weniger würde
nachgegeben haben, wenn er die herrliche Eigen¬
schaft des Muthes besessen hätte. Ich kann die
Herzhaftigkeit, die List des Räubers bewundern,
der mich bestiehlt, aber ihn selbst nenne ich lasterhaft,
weil ihm die ungleich schönere Eigenschaft der Ge¬
rechtigkeit
mangelt. So kann mich eine Un¬

ternehmung

Nach allem Vorhergegangenen.

„Und wenn wir eine ſchlimme Handlung von
einem Menſchen ſehen, ſo iſt dieſe Handlung gerade
das einzige Gute, was wir in dieſem Augenblick
an ihm bemerken.“

Das klingt ſonderbar.

„Laſſen Sie uns ein Gleichniß zu Hülfe neh¬
men. Warum nennen wir einen trüben, neblich¬
ten Wintertag einen traurigen Anblick? Iſt es
darum, weil wir eine Schneelandſchaft an ſich ſelbſt
widrig finden? Nichts weniger; könnte man ſie
in den Sommer verpflanzen, ſie würde ſeine Schön¬
heit erheben. Wir nennen ihn traurig, weil dieſer
Schnee und dieſer Nebelduft nicht da ſeyn könnten,
wenn eine Sonne geſchienen hätte, ſie zu zerthei¬
len, weil ſie mit den ungleich größern Reizen des
Sommers unvereinbar ſind. Der Winter iſt uns
alſo ein Uebel, nicht weil ihm alle Genüſſe man¬
geln, ſondern weil er größere ausſchließt.“

Vollkommen anſchaulich.

„Eben ſo mit moraliſchen Weſen. Wir ver¬
achten einen Menſchen, der aus dem Treffen flie¬
het, und dem Tode dadurch entgeht, nicht weil
uns der wirkſame Trieb der Selbſterhaltung mi߬
fiele, ſondern weil er dieſem Triebe weniger würde
nachgegeben haben, wenn er die herrliche Eigen¬
ſchaft des Muthes beſeſſen hätte. Ich kann die
Herzhaftigkeit, die Liſt des Räubers bewundern,
der mich beſtiehlt, aber ihn ſelbſt nenne ich laſterhaft,
weil ihm die ungleich ſchönere Eigenſchaft der Ge¬
rechtigkeit
mangelt. So kann mich eine Un¬

ternehmung
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[150/0158] Nach allem Vorhergegangenen. „Und wenn wir eine ſchlimme Handlung von einem Menſchen ſehen, ſo iſt dieſe Handlung gerade das einzige Gute, was wir in dieſem Augenblick an ihm bemerken.“ Das klingt ſonderbar. „Laſſen Sie uns ein Gleichniß zu Hülfe neh¬ men. Warum nennen wir einen trüben, neblich¬ ten Wintertag einen traurigen Anblick? Iſt es darum, weil wir eine Schneelandſchaft an ſich ſelbſt widrig finden? Nichts weniger; könnte man ſie in den Sommer verpflanzen, ſie würde ſeine Schön¬ heit erheben. Wir nennen ihn traurig, weil dieſer Schnee und dieſer Nebelduft nicht da ſeyn könnten, wenn eine Sonne geſchienen hätte, ſie zu zerthei¬ len, weil ſie mit den ungleich größern Reizen des Sommers unvereinbar ſind. Der Winter iſt uns alſo ein Uebel, nicht weil ihm alle Genüſſe man¬ geln, ſondern weil er größere ausſchließt.“ Vollkommen anſchaulich. „Eben ſo mit moraliſchen Weſen. Wir ver¬ achten einen Menſchen, der aus dem Treffen flie¬ het, und dem Tode dadurch entgeht, nicht weil uns der wirkſame Trieb der Selbſterhaltung mi߬ fiele, ſondern weil er dieſem Triebe weniger würde nachgegeben haben, wenn er die herrliche Eigen¬ ſchaft des Muthes beſeſſen hätte. Ich kann die Herzhaftigkeit, die Liſt des Räubers bewundern, der mich beſtiehlt, aber ihn ſelbſt nenne ich laſterhaft, weil ihm die ungleich ſchönere Eigenſchaft der Ge¬ rechtigkeit mangelt. So kann mich eine Un¬ ternehmung

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Der Geisterseher. Leipzig, 1789, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_geisterseher_1789/158>, abgerufen am 28.04.2024.