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Schiller, Friedrich: Der Geisterseher. Leipzig, 1789.

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lich, zu den Freuden und Wünschen des gestrigen
Morgens, als zu den Spielen meiner Kindheit zu¬
rück zu kehren. Seit ich das sah, seitdem dieses
Bild hier wohnet -- dieses lebendige, mächtige
Gefühl in mir: Du kannst nichts mehr lieben als
das, und in dieser Welt wird nichts mehr auf
dich wirken!"

Denken Sie nach, gnädigster Herr, in welcher
reitzbaren Stimmung Sie waren, als diese Er¬
scheinung Sie überraschte, und wie vieles zusam¬
menkam, Ihre Einbildungskraft zu spannen. Aus
dem hellen blendenden Tageslicht, aus dem Gewühle
der Straße plötzlich in diese stille Dunkelheit ver¬
setzt -- ganz den Empfindungen hingegeben, die,
wie Sie selbst gestehen, die Stille, die Majestät
dieses Orts in Ihnen rege machte -- durch Be¬
trachtung schöner Kunstwerke für Schönheit über¬
haupt empfänglicher gemacht-- zugleich allein und
einsam Ihrer Meinung nach -- und nun auf ein¬
mal -- in der Nähe von einer Mädchengestalt
überrascht, wo Sie Sich keines Zeugen versahen --
von einer Schönheit, wie ich Ihnen gerne zugebe,
die durch eine vortheilhafte Beleuchtung, eine glück¬
liche Stellung, einen Ausdruck begeisterter Andacht
noch mehr erhoben ward -- was war natürlicher,
als daß Ihre entzündete Phantasie sich etwas idea¬
lisches, etwas überirdischvollkommenes daraus zu¬
sammensetzte?

"Kann die Phantasie etwas geben, was sie
nie empfangen hat? -- und im ganzen Gebiethe

meiner

lich, zu den Freuden und Wünſchen des geſtrigen
Morgens, als zu den Spielen meiner Kindheit zu¬
rück zu kehren. Seit ich das ſah, ſeitdem dieſes
Bild hier wohnet — dieſes lebendige, mächtige
Gefühl in mir: Du kannſt nichts mehr lieben als
das, und in dieſer Welt wird nichts mehr auf
dich wirken!“

Denken Sie nach, gnädigſter Herr, in welcher
reitzbaren Stimmung Sie waren, als dieſe Er¬
ſcheinung Sie überraſchte, und wie vieles zuſam¬
menkam, Ihre Einbildungskraft zu ſpannen. Aus
dem hellen blendenden Tageslicht, aus dem Gewühle
der Straße plötzlich in dieſe ſtille Dunkelheit ver¬
ſetzt — ganz den Empfindungen hingegeben, die,
wie Sie ſelbſt geſtehen, die Stille, die Majeſtät
dieſes Orts in Ihnen rege machte — durch Be¬
trachtung ſchöner Kunſtwerke für Schönheit über¬
haupt empfänglicher gemacht— zugleich allein und
einſam Ihrer Meinung nach — und nun auf ein¬
mal — in der Nähe von einer Mädchengeſtalt
überraſcht, wo Sie Sich keines Zeugen verſahen —
von einer Schönheit, wie ich Ihnen gerne zugebe,
die durch eine vortheilhafte Beleuchtung, eine glück¬
liche Stellung, einen Ausdruck begeiſterter Andacht
noch mehr erhoben ward — was war natürlicher,
als daß Ihre entzündete Phantaſie ſich etwas idea¬
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[175/0183] lich, zu den Freuden und Wünſchen des geſtrigen Morgens, als zu den Spielen meiner Kindheit zu¬ rück zu kehren. Seit ich das ſah, ſeitdem dieſes Bild hier wohnet — dieſes lebendige, mächtige Gefühl in mir: Du kannſt nichts mehr lieben als das, und in dieſer Welt wird nichts mehr auf dich wirken!“ Denken Sie nach, gnädigſter Herr, in welcher reitzbaren Stimmung Sie waren, als dieſe Er¬ ſcheinung Sie überraſchte, und wie vieles zuſam¬ menkam, Ihre Einbildungskraft zu ſpannen. Aus dem hellen blendenden Tageslicht, aus dem Gewühle der Straße plötzlich in dieſe ſtille Dunkelheit ver¬ ſetzt — ganz den Empfindungen hingegeben, die, wie Sie ſelbſt geſtehen, die Stille, die Majeſtät dieſes Orts in Ihnen rege machte — durch Be¬ trachtung ſchöner Kunſtwerke für Schönheit über¬ haupt empfänglicher gemacht— zugleich allein und einſam Ihrer Meinung nach — und nun auf ein¬ mal — in der Nähe von einer Mädchengeſtalt überraſcht, wo Sie Sich keines Zeugen verſahen — von einer Schönheit, wie ich Ihnen gerne zugebe, die durch eine vortheilhafte Beleuchtung, eine glück¬ liche Stellung, einen Ausdruck begeiſterter Andacht noch mehr erhoben ward — was war natürlicher, als daß Ihre entzündete Phantaſie ſich etwas idea¬ liſches, etwas überirdiſchvollkommenes daraus zu¬ ſammenſetzte? „Kann die Phantaſie etwas geben, was ſie nie empfangen hat? — und im ganzen Gebiethe meiner

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Der Geisterseher. Leipzig, 1789, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_geisterseher_1789/183>, abgerufen am 28.04.2024.