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Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848.

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sich aber schon beim Sonnensystem unter einer bestimmten Form, in-
dem die Planetenbahnen nicht alle gleichförmig um eine und dieselbe
an der Sonne gezogene Linie kreisen, sondern von dieser Linie, jeder
auf seine Weise abweichen, indem die Größe der Planeten nicht in
einer stetigen Reihe von der Sonne aus zu- oder abnimmt u. s. w.
Schon hierbei verlassen uns für jetzt unsere Kenntnisse und wir sind
unfähig, eine gesetzmäßige Ableitung für diese Form des Sonnen-
systems zu finden. Bei Weitem zusammengesetzter werden aber diese
eigenthümlichen Formen bei den Naturprocessen an der Erde und wir
nennen sie hier, wo sie uns sogleich anschaulich entgegentreten und
sich leicht als ein Ganzes übersehen lassen "Gestalten." Mögen wir
nun zwar bei den Krystallen wegen ihrer regelmäßigen mathematischen
Form ahnen, daß auch sie strengen Gesetzen bei ihrer Bildung unter-
worfen sind, so erscheint es uns doch immerhin als rein zufällig,
warum gerade das Kochsalz und der Schwefelkies in reinen Würfeln
krystallisiren und nicht wie der Flußspath in achtflächigen Körpern.
Endlich bei Pflanzen und Thieren werden die Formen so mannigfaltig
und so abweichend, daß wir eine mathematische Grundlage auch nicht
einmal zu ahnen vermögen. Alles erscheint hier rein zufällig oder
launenhaftes Spiel einer blind wirkenden Naturkraft. Es liegt aber
im Menschen ein unabweisbares Bedürfniß, in seiner Weltanschauung
Nichts dem Zufalle zu überlassen, der ihn trost- und hoffnungslos den
ihm überlegenen Naturkräften gegenüber stellen würde, und wo daher
die Erkenntniß der Gesetzmäßigkeit zur Zeit noch versagt ist, legt er den
Sachen nach Maaßgabe seiner eignen Handlungsweise eine Zweckmä-
ßigkeit unter, deren letzte Ursache er in einem mächtigen und weisen Schö-
pfer und Erhalter der Welt sucht. Wie sehr aber für die wissenschaftliche
Beurtheilung der Natur dieses unzureichend sey, zeigt sich gleich darin,
daß wir mit einer solchen Beurtheilung nach Zwecken auch durchaus
nicht ausreichen. Für die uns am Nächsten stehenden Thiere gelingt
es freilich noch, ihre Formen in Beziehung zu setzen mit ihrer Lebens-
weise, wir erkennen wohl, daß ein Vogel zum Fliegen, ein Fisch zum

ſich aber ſchon beim Sonnenſyſtem unter einer beſtimmten Form, in-
dem die Planetenbahnen nicht alle gleichförmig um eine und dieſelbe
an der Sonne gezogene Linie kreiſen, ſondern von dieſer Linie, jeder
auf ſeine Weiſe abweichen, indem die Größe der Planeten nicht in
einer ſtetigen Reihe von der Sonne aus zu- oder abnimmt u. ſ. w.
Schon hierbei verlaſſen uns für jetzt unſere Kenntniſſe und wir ſind
unfähig, eine geſetzmäßige Ableitung für dieſe Form des Sonnen-
ſyſtems zu finden. Bei Weitem zuſammengeſetzter werden aber dieſe
eigenthümlichen Formen bei den Naturproceſſen an der Erde und wir
nennen ſie hier, wo ſie uns ſogleich anſchaulich entgegentreten und
ſich leicht als ein Ganzes überſehen laſſen „Geſtalten.“ Mögen wir
nun zwar bei den Kryſtallen wegen ihrer regelmäßigen mathematiſchen
Form ahnen, daß auch ſie ſtrengen Geſetzen bei ihrer Bildung unter-
worfen ſind, ſo erſcheint es uns doch immerhin als rein zufällig,
warum gerade das Kochſalz und der Schwefelkies in reinen Würfeln
kryſtalliſiren und nicht wie der Flußſpath in achtflächigen Körpern.
Endlich bei Pflanzen und Thieren werden die Formen ſo mannigfaltig
und ſo abweichend, daß wir eine mathematiſche Grundlage auch nicht
einmal zu ahnen vermögen. Alles erſcheint hier rein zufällig oder
launenhaftes Spiel einer blind wirkenden Naturkraft. Es liegt aber
im Menſchen ein unabweisbares Bedürfniß, in ſeiner Weltanſchauung
Nichts dem Zufalle zu überlaſſen, der ihn troſt- und hoffnungslos den
ihm überlegenen Naturkräften gegenüber ſtellen würde, und wo daher
die Erkenntniß der Geſetzmäßigkeit zur Zeit noch verſagt iſt, legt er den
Sachen nach Maaßgabe ſeiner eignen Handlungsweiſe eine Zweckmä-
ßigkeit unter, deren letzte Urſache er in einem mächtigen und weiſen Schö-
pfer und Erhalter der Welt ſucht. Wie ſehr aber für die wiſſenſchaftliche
Beurtheilung der Natur dieſes unzureichend ſey, zeigt ſich gleich darin,
daß wir mit einer ſolchen Beurtheilung nach Zwecken auch durchaus
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[196/0212] ſich aber ſchon beim Sonnenſyſtem unter einer beſtimmten Form, in- dem die Planetenbahnen nicht alle gleichförmig um eine und dieſelbe an der Sonne gezogene Linie kreiſen, ſondern von dieſer Linie, jeder auf ſeine Weiſe abweichen, indem die Größe der Planeten nicht in einer ſtetigen Reihe von der Sonne aus zu- oder abnimmt u. ſ. w. Schon hierbei verlaſſen uns für jetzt unſere Kenntniſſe und wir ſind unfähig, eine geſetzmäßige Ableitung für dieſe Form des Sonnen- ſyſtems zu finden. Bei Weitem zuſammengeſetzter werden aber dieſe eigenthümlichen Formen bei den Naturproceſſen an der Erde und wir nennen ſie hier, wo ſie uns ſogleich anſchaulich entgegentreten und ſich leicht als ein Ganzes überſehen laſſen „Geſtalten.“ Mögen wir nun zwar bei den Kryſtallen wegen ihrer regelmäßigen mathematiſchen Form ahnen, daß auch ſie ſtrengen Geſetzen bei ihrer Bildung unter- worfen ſind, ſo erſcheint es uns doch immerhin als rein zufällig, warum gerade das Kochſalz und der Schwefelkies in reinen Würfeln kryſtalliſiren und nicht wie der Flußſpath in achtflächigen Körpern. Endlich bei Pflanzen und Thieren werden die Formen ſo mannigfaltig und ſo abweichend, daß wir eine mathematiſche Grundlage auch nicht einmal zu ahnen vermögen. Alles erſcheint hier rein zufällig oder launenhaftes Spiel einer blind wirkenden Naturkraft. Es liegt aber im Menſchen ein unabweisbares Bedürfniß, in ſeiner Weltanſchauung Nichts dem Zufalle zu überlaſſen, der ihn troſt- und hoffnungslos den ihm überlegenen Naturkräften gegenüber ſtellen würde, und wo daher die Erkenntniß der Geſetzmäßigkeit zur Zeit noch verſagt iſt, legt er den Sachen nach Maaßgabe ſeiner eignen Handlungsweiſe eine Zweckmä- ßigkeit unter, deren letzte Urſache er in einem mächtigen und weiſen Schö- pfer und Erhalter der Welt ſucht. Wie ſehr aber für die wiſſenſchaftliche Beurtheilung der Natur dieſes unzureichend ſey, zeigt ſich gleich darin, daß wir mit einer ſolchen Beurtheilung nach Zwecken auch durchaus nicht ausreichen. Für die uns am Nächſten ſtehenden Thiere gelingt es freilich noch, ihre Formen in Beziehung zu ſetzen mit ihrer Lebens- weiſe, wir erkennen wohl, daß ein Vogel zum Fliegen, ein Fiſch zum

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Zitationshilfe: Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_pflanze_1848/212>, abgerufen am 29.04.2024.