Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schücking, Levin: Die Schwester. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 169–291. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

wandte kein Auge von ihr. Tausend Dinge lagen ihm auf dem Herzen, die er ihr hätte sagen mögen -- aber er wagte es nicht, sie anzureden -- gegen die Gedanken, welche in diesem Augenblicke ihre schmerzerfüllte Seele bewegen mußten, kam ihm Alles so klein und nichtig vor, was er ihr sagen konnte -- ja frivol und gefühllos sogar! Und doch lag sein ganzes Herz in diesen Dingen.

Leonore fühlte sich immer mehr unwohl. Sie zog sich zurück und war bald gezwungen, sich niederzulegen. Als der im nächsten Flecken bestellte Wagen gegen Mittag ankam, wer es ihr unmöglich, sich zu erheben und abzureisen. Auch litt Philibert's Mutter, die sich voll Sorgfalt um sie bewegte, dies durchaus nicht. Leonore war in einem Zustande äußerster Nervenerschöpfung, der in ein Nervenfieber überzugehen drohte. Bertram mußte mit dem Wagen zurück, um einen Arzt aufzutreiben. Dann sollte er auch Gertruden mit den Sachen ihrer Herrin aus Windschrot holen. Er machte sich eiligst wieder auf den Weg, aber es war schon Dämmerung geworden, als er sich dem Gute näherte. Ungefähr einen Büchsenschuß weit vom Hofthore desselben kam ihm Joseph entgegengestürzt, mit allen Zeichen furchtbarster Aufregung. Bertram hielt ihn zurück und richtete seinen Auftrag aus. Joseph hörte ihn an, wie ein Verbrecher ein Begnadigungsdecret anhören mag. Stumm, aber in zitternder Hast zog er den seltsamen kleinen Waldmenschen ins Haus, rief seinen Vater herbei,

wandte kein Auge von ihr. Tausend Dinge lagen ihm auf dem Herzen, die er ihr hätte sagen mögen — aber er wagte es nicht, sie anzureden — gegen die Gedanken, welche in diesem Augenblicke ihre schmerzerfüllte Seele bewegen mußten, kam ihm Alles so klein und nichtig vor, was er ihr sagen konnte — ja frivol und gefühllos sogar! Und doch lag sein ganzes Herz in diesen Dingen.

Leonore fühlte sich immer mehr unwohl. Sie zog sich zurück und war bald gezwungen, sich niederzulegen. Als der im nächsten Flecken bestellte Wagen gegen Mittag ankam, wer es ihr unmöglich, sich zu erheben und abzureisen. Auch litt Philibert's Mutter, die sich voll Sorgfalt um sie bewegte, dies durchaus nicht. Leonore war in einem Zustande äußerster Nervenerschöpfung, der in ein Nervenfieber überzugehen drohte. Bertram mußte mit dem Wagen zurück, um einen Arzt aufzutreiben. Dann sollte er auch Gertruden mit den Sachen ihrer Herrin aus Windschrot holen. Er machte sich eiligst wieder auf den Weg, aber es war schon Dämmerung geworden, als er sich dem Gute näherte. Ungefähr einen Büchsenschuß weit vom Hofthore desselben kam ihm Joseph entgegengestürzt, mit allen Zeichen furchtbarster Aufregung. Bertram hielt ihn zurück und richtete seinen Auftrag aus. Joseph hörte ihn an, wie ein Verbrecher ein Begnadigungsdecret anhören mag. Stumm, aber in zitternder Hast zog er den seltsamen kleinen Waldmenschen ins Haus, rief seinen Vater herbei,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="chapter" n="9">
        <p><pb facs="#f0119"/>
wandte kein Auge von ihr. Tausend Dinge      lagen ihm auf dem Herzen, die er ihr hätte sagen mögen &#x2014; aber er wagte es nicht, sie anzureden      &#x2014; gegen die Gedanken, welche in diesem Augenblicke ihre schmerzerfüllte Seele bewegen mußten,      kam ihm Alles so klein und nichtig vor, was er ihr sagen konnte &#x2014; ja frivol und gefühllos      sogar! Und doch lag sein ganzes Herz in diesen Dingen.</p><lb/>
        <p>Leonore fühlte sich immer mehr unwohl. Sie zog sich zurück und war bald gezwungen, sich      niederzulegen. Als der im nächsten Flecken bestellte Wagen gegen Mittag ankam, wer es ihr      unmöglich, sich zu erheben und abzureisen. Auch litt Philibert's Mutter, die sich voll Sorgfalt      um sie bewegte, dies durchaus nicht. Leonore war in einem Zustande äußerster Nervenerschöpfung,      der in ein Nervenfieber überzugehen drohte. Bertram mußte mit dem Wagen zurück, um einen Arzt      aufzutreiben. Dann sollte er auch Gertruden mit den Sachen ihrer Herrin aus Windschrot holen.      Er machte sich eiligst wieder auf den Weg, aber es war schon Dämmerung geworden, als er sich      dem Gute näherte. Ungefähr einen Büchsenschuß weit vom Hofthore desselben kam ihm Joseph      entgegengestürzt, mit allen Zeichen furchtbarster Aufregung. Bertram hielt ihn zurück und      richtete seinen Auftrag aus. Joseph hörte ihn an, wie ein Verbrecher ein Begnadigungsdecret      anhören mag. Stumm, aber in zitternder Hast zog er den seltsamen kleinen Waldmenschen ins Haus,      rief seinen Vater herbei,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0119] wandte kein Auge von ihr. Tausend Dinge lagen ihm auf dem Herzen, die er ihr hätte sagen mögen — aber er wagte es nicht, sie anzureden — gegen die Gedanken, welche in diesem Augenblicke ihre schmerzerfüllte Seele bewegen mußten, kam ihm Alles so klein und nichtig vor, was er ihr sagen konnte — ja frivol und gefühllos sogar! Und doch lag sein ganzes Herz in diesen Dingen. Leonore fühlte sich immer mehr unwohl. Sie zog sich zurück und war bald gezwungen, sich niederzulegen. Als der im nächsten Flecken bestellte Wagen gegen Mittag ankam, wer es ihr unmöglich, sich zu erheben und abzureisen. Auch litt Philibert's Mutter, die sich voll Sorgfalt um sie bewegte, dies durchaus nicht. Leonore war in einem Zustande äußerster Nervenerschöpfung, der in ein Nervenfieber überzugehen drohte. Bertram mußte mit dem Wagen zurück, um einen Arzt aufzutreiben. Dann sollte er auch Gertruden mit den Sachen ihrer Herrin aus Windschrot holen. Er machte sich eiligst wieder auf den Weg, aber es war schon Dämmerung geworden, als er sich dem Gute näherte. Ungefähr einen Büchsenschuß weit vom Hofthore desselben kam ihm Joseph entgegengestürzt, mit allen Zeichen furchtbarster Aufregung. Bertram hielt ihn zurück und richtete seinen Auftrag aus. Joseph hörte ihn an, wie ein Verbrecher ein Begnadigungsdecret anhören mag. Stumm, aber in zitternder Hast zog er den seltsamen kleinen Waldmenschen ins Haus, rief seinen Vater herbei,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T11:53:40Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T11:53:40Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schuecking_schwester_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schuecking_schwester_1910/119
Zitationshilfe: Schücking, Levin: Die Schwester. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 169–291. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schuecking_schwester_1910/119>, abgerufen am 29.04.2024.