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Schücking, Levin: Die Schwester. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 169–291. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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rührte Leonoren Philibert's liebevolles Betragen gegen seine Mutter. Nach und nach verkettete sich seine Erscheinung aufs Engste mit all jener Poesie, welche ihr aus diesem stillen Waldleben entgegenquoll, und deren Zauber sie jetzt mit einer früher ungeahnten Gewalt fesselte. In dieser Stimmung war Leonore, als sie plötzlich Philibert vor sich stehen sah. Verlegen bot er ihr den Morgengruß.

Ich muß Ihr kleines Zauberreich zu einer Zeit verlassen, wo es grade in seiner schönsten Blüte steht, sagte sie. Alle Ihre Blumen haben um die Wette ihre schönsten Kelche aufgeschlagen.

Leonore, Sie sind sehr grausam gegen mich, nahm Philibert das Wort. Ich hatte mich so getrost in mein Schicksal gefunden, ich hatte mich angeschickt, hier das Leben eines Weisen zu führen, der von der Welt nichts mehr erwartet und die Entsagung des Anachoreten als die echte Philosophie des Herzens betrachtet, das glücklich sein will. Aber ach, es war der Traum eines Knaben, der keine inneren Erfahrungen hat: eine männliche Leidenschaft hat mich jetzt gelehrt, daß das Glück des Menschen nicht anders sein kann, als das Glück Desjenigen, nach dessen Bilde er erschaffen ist. Er will eine Welt besitzen, eine Welt für sich -- eine Unendlichkeit für sich.

Das ist viel, ungeheuer viel verlangt -- sagte Leonore.

Aber nicht zu viel, nichts Unerreichbares!

rührte Leonoren Philibert's liebevolles Betragen gegen seine Mutter. Nach und nach verkettete sich seine Erscheinung aufs Engste mit all jener Poesie, welche ihr aus diesem stillen Waldleben entgegenquoll, und deren Zauber sie jetzt mit einer früher ungeahnten Gewalt fesselte. In dieser Stimmung war Leonore, als sie plötzlich Philibert vor sich stehen sah. Verlegen bot er ihr den Morgengruß.

Ich muß Ihr kleines Zauberreich zu einer Zeit verlassen, wo es grade in seiner schönsten Blüte steht, sagte sie. Alle Ihre Blumen haben um die Wette ihre schönsten Kelche aufgeschlagen.

Leonore, Sie sind sehr grausam gegen mich, nahm Philibert das Wort. Ich hatte mich so getrost in mein Schicksal gefunden, ich hatte mich angeschickt, hier das Leben eines Weisen zu führen, der von der Welt nichts mehr erwartet und die Entsagung des Anachoreten als die echte Philosophie des Herzens betrachtet, das glücklich sein will. Aber ach, es war der Traum eines Knaben, der keine inneren Erfahrungen hat: eine männliche Leidenschaft hat mich jetzt gelehrt, daß das Glück des Menschen nicht anders sein kann, als das Glück Desjenigen, nach dessen Bilde er erschaffen ist. Er will eine Welt besitzen, eine Welt für sich — eine Unendlichkeit für sich.

Das ist viel, ungeheuer viel verlangt — sagte Leonore.

Aber nicht zu viel, nichts Unerreichbares!

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[0122] rührte Leonoren Philibert's liebevolles Betragen gegen seine Mutter. Nach und nach verkettete sich seine Erscheinung aufs Engste mit all jener Poesie, welche ihr aus diesem stillen Waldleben entgegenquoll, und deren Zauber sie jetzt mit einer früher ungeahnten Gewalt fesselte. In dieser Stimmung war Leonore, als sie plötzlich Philibert vor sich stehen sah. Verlegen bot er ihr den Morgengruß. Ich muß Ihr kleines Zauberreich zu einer Zeit verlassen, wo es grade in seiner schönsten Blüte steht, sagte sie. Alle Ihre Blumen haben um die Wette ihre schönsten Kelche aufgeschlagen. Leonore, Sie sind sehr grausam gegen mich, nahm Philibert das Wort. Ich hatte mich so getrost in mein Schicksal gefunden, ich hatte mich angeschickt, hier das Leben eines Weisen zu führen, der von der Welt nichts mehr erwartet und die Entsagung des Anachoreten als die echte Philosophie des Herzens betrachtet, das glücklich sein will. Aber ach, es war der Traum eines Knaben, der keine inneren Erfahrungen hat: eine männliche Leidenschaft hat mich jetzt gelehrt, daß das Glück des Menschen nicht anders sein kann, als das Glück Desjenigen, nach dessen Bilde er erschaffen ist. Er will eine Welt besitzen, eine Welt für sich — eine Unendlichkeit für sich. Das ist viel, ungeheuer viel verlangt — sagte Leonore. Aber nicht zu viel, nichts Unerreichbares!

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T11:53:40Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
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Zitationshilfe: Schücking, Levin: Die Schwester. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 169–291. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schuecking_schwester_1910/122>, abgerufen am 29.04.2024.