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Schücking, Levin: Die Schwester. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 169–291. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Und dies Durchschauen war freilich nicht schwer -- sein verändertes Wesen, seine Unruhe, seine Schwermuth sprachen deutlich genug!

Philibert, sagte sie eines Morgens, als sie allein mit ihm war und indem sie seine Hand ergriff, weßhalb bist du so still und verzagt? Mein kecker Junge ist ja sonst nicht blöde! Soll ich mir denn durchaus ein Herz fassen und für dich reden?

Philibert erröthete. Nein, mein gutes Mütterchen -- wenn Ihr mir Euern Segen dazu gebt --

Den hast du, Kind --

Dann will ich's selbst versuchen, ob ich's herausbringe!

Es war zwei Tage nachher. Leonore ging schon wieder an die Luft und wandelte im Garten auf und ab. Sie war sehr blaß, und ihre Blicke glitten träumerisch über die Blumenkelche, in denen die Thautropfen des Morgens funkelten. Sie dachte mit tiefem Zagen an die Abreise -- aus dem sicheren Friedensbann, der sie hier in der Waldeinsamkeit umgab, sich loszureißen, um in die Welt zurückzukehren, das schien ihr das schwerste Opfer, welches sie dem Leben und einem unerbittlichen Schicksale bringen sollte. Sie dachte auch an Philibert. Während des Aufenthalts in seinem Hause hatte sie immer mehr liebenswürdige Seiten an diesem edeln Charakter sich entwickeln gesehen.

Hinter seiner Bescheidenheit verbarg sich ein tiefer Verstand, ein warmes, sinniges Gemüth, und vor Allem

Und dies Durchschauen war freilich nicht schwer — sein verändertes Wesen, seine Unruhe, seine Schwermuth sprachen deutlich genug!

Philibert, sagte sie eines Morgens, als sie allein mit ihm war und indem sie seine Hand ergriff, weßhalb bist du so still und verzagt? Mein kecker Junge ist ja sonst nicht blöde! Soll ich mir denn durchaus ein Herz fassen und für dich reden?

Philibert erröthete. Nein, mein gutes Mütterchen — wenn Ihr mir Euern Segen dazu gebt —

Den hast du, Kind —

Dann will ich's selbst versuchen, ob ich's herausbringe!

Es war zwei Tage nachher. Leonore ging schon wieder an die Luft und wandelte im Garten auf und ab. Sie war sehr blaß, und ihre Blicke glitten träumerisch über die Blumenkelche, in denen die Thautropfen des Morgens funkelten. Sie dachte mit tiefem Zagen an die Abreise — aus dem sicheren Friedensbann, der sie hier in der Waldeinsamkeit umgab, sich loszureißen, um in die Welt zurückzukehren, das schien ihr das schwerste Opfer, welches sie dem Leben und einem unerbittlichen Schicksale bringen sollte. Sie dachte auch an Philibert. Während des Aufenthalts in seinem Hause hatte sie immer mehr liebenswürdige Seiten an diesem edeln Charakter sich entwickeln gesehen.

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[0121] Und dies Durchschauen war freilich nicht schwer — sein verändertes Wesen, seine Unruhe, seine Schwermuth sprachen deutlich genug! Philibert, sagte sie eines Morgens, als sie allein mit ihm war und indem sie seine Hand ergriff, weßhalb bist du so still und verzagt? Mein kecker Junge ist ja sonst nicht blöde! Soll ich mir denn durchaus ein Herz fassen und für dich reden? Philibert erröthete. Nein, mein gutes Mütterchen — wenn Ihr mir Euern Segen dazu gebt — Den hast du, Kind — Dann will ich's selbst versuchen, ob ich's herausbringe! Es war zwei Tage nachher. Leonore ging schon wieder an die Luft und wandelte im Garten auf und ab. Sie war sehr blaß, und ihre Blicke glitten träumerisch über die Blumenkelche, in denen die Thautropfen des Morgens funkelten. Sie dachte mit tiefem Zagen an die Abreise — aus dem sicheren Friedensbann, der sie hier in der Waldeinsamkeit umgab, sich loszureißen, um in die Welt zurückzukehren, das schien ihr das schwerste Opfer, welches sie dem Leben und einem unerbittlichen Schicksale bringen sollte. Sie dachte auch an Philibert. Während des Aufenthalts in seinem Hause hatte sie immer mehr liebenswürdige Seiten an diesem edeln Charakter sich entwickeln gesehen. Hinter seiner Bescheidenheit verbarg sich ein tiefer Verstand, ein warmes, sinniges Gemüth, und vor Allem

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T11:53:40Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T11:53:40Z)

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Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




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Zitationshilfe: Schücking, Levin: Die Schwester. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 169–291. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schuecking_schwester_1910/121>, abgerufen am 28.04.2024.