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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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zurückgebe! Er hat kein unwürdiges Lösegeld gebracht,
und auch dir soll dein Antheil davon werden!"

Nun kehrte er zurück ins Zelt, setzte sich dem Könige
wieder gegenüber, und sprach: "Siehe, dein Sohn ist jetzt
gelöst, o Greis, wie du es gewünscht hast; er liegt in
ehrbare Gewande eingehüllt. Sobald der Morgen sich
röthet, magst du ihn schauen und davonführen. Jetzt aber
laß uns der Nachtkost gedenken, du hast noch Zeit genug,
deinen lieben Sohn zu beweinen, wenn du ihn zur Stadt
gebracht hast, denn wohl verdient er viele Thränen." So
sprach der Held, erhub sich wieder vom Sitz, eilte hinaus
und schlachtete ein Schaf. Seine Freunde zogen die Haut
ab, schnitten das Fleisch in Stücke, und brieten es sorg¬
fältig am Spieße. Dann setzten sie sich zu Tische: Auto¬
medon vertheilte in zierlichen Körben das Brod, Achilles
das Fleisch, und Alle sättigten sich nun mit Speise und
Trank. Staunend betrachtete Priamus Wuchs und Ge¬
stalt seines edlen Wirthes, denn er glich den Unsterblichen.
Aber auch Achilles staunte vor Priamus, wenn er ihm in
das Angesicht voll Würde schaute, und die weise Rede des
Greisen vernahm. Als nun das Mahl vorüber war,
sprach Priamus: "Bette mich jetzt, edler Held, daß wir
uns am erquickenden Schlafe sättigen, denn seit mein
Sohn gestorben ist, haben sich meine Augenlieder nicht
mehr geschlossen, und das erstemal habe ich Fleisch und
Wein gekostet."

Sofort befahl Achilles seinen Genossen und den Mäg¬
den, ein Bett unter die Halle zu stellen, mit Purpurpolstern
zu belegen, Teppiche drüber zu breiten, und zottige Män¬
tel als Decke darauf. So wurde jedem der Fremdlinge
ein gesondertes Lager bereitet; und nun sprach Achilles

zurückgebe! Er hat kein unwürdiges Löſegeld gebracht,
und auch dir ſoll dein Antheil davon werden!“

Nun kehrte er zurück ins Zelt, ſetzte ſich dem Könige
wieder gegenüber, und ſprach: „Siehe, dein Sohn iſt jetzt
gelöst, o Greis, wie du es gewünſcht haſt; er liegt in
ehrbare Gewande eingehüllt. Sobald der Morgen ſich
röthet, magſt du ihn ſchauen und davonführen. Jetzt aber
laß uns der Nachtkoſt gedenken, du haſt noch Zeit genug,
deinen lieben Sohn zu beweinen, wenn du ihn zur Stadt
gebracht haſt, denn wohl verdient er viele Thränen.“ So
ſprach der Held, erhub ſich wieder vom Sitz, eilte hinaus
und ſchlachtete ein Schaf. Seine Freunde zogen die Haut
ab, ſchnitten das Fleiſch in Stücke, und brieten es ſorg¬
fältig am Spieße. Dann ſetzten ſie ſich zu Tiſche: Auto¬
medon vertheilte in zierlichen Körben das Brod, Achilles
das Fleiſch, und Alle ſättigten ſich nun mit Speiſe und
Trank. Staunend betrachtete Priamus Wuchs und Ge¬
ſtalt ſeines edlen Wirthes, denn er glich den Unſterblichen.
Aber auch Achilles ſtaunte vor Priamus, wenn er ihm in
das Angeſicht voll Würde ſchaute, und die weiſe Rede des
Greiſen vernahm. Als nun das Mahl vorüber war,
ſprach Priamus: „Bette mich jetzt, edler Held, daß wir
uns am erquickenden Schlafe ſättigen, denn ſeit mein
Sohn geſtorben iſt, haben ſich meine Augenlieder nicht
mehr geſchloſſen, und das erſtemal habe ich Fleiſch und
Wein gekoſtet.“

Sofort befahl Achilles ſeinen Genoſſen und den Mäg¬
den, ein Bett unter die Halle zu ſtellen, mit Purpurpolſtern
zu belegen, Teppiche drüber zu breiten, und zottige Män¬
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[310/0332] zurückgebe! Er hat kein unwürdiges Löſegeld gebracht, und auch dir ſoll dein Antheil davon werden!“ Nun kehrte er zurück ins Zelt, ſetzte ſich dem Könige wieder gegenüber, und ſprach: „Siehe, dein Sohn iſt jetzt gelöst, o Greis, wie du es gewünſcht haſt; er liegt in ehrbare Gewande eingehüllt. Sobald der Morgen ſich röthet, magſt du ihn ſchauen und davonführen. Jetzt aber laß uns der Nachtkoſt gedenken, du haſt noch Zeit genug, deinen lieben Sohn zu beweinen, wenn du ihn zur Stadt gebracht haſt, denn wohl verdient er viele Thränen.“ So ſprach der Held, erhub ſich wieder vom Sitz, eilte hinaus und ſchlachtete ein Schaf. Seine Freunde zogen die Haut ab, ſchnitten das Fleiſch in Stücke, und brieten es ſorg¬ fältig am Spieße. Dann ſetzten ſie ſich zu Tiſche: Auto¬ medon vertheilte in zierlichen Körben das Brod, Achilles das Fleiſch, und Alle ſättigten ſich nun mit Speiſe und Trank. Staunend betrachtete Priamus Wuchs und Ge¬ ſtalt ſeines edlen Wirthes, denn er glich den Unſterblichen. Aber auch Achilles ſtaunte vor Priamus, wenn er ihm in das Angeſicht voll Würde ſchaute, und die weiſe Rede des Greiſen vernahm. Als nun das Mahl vorüber war, ſprach Priamus: „Bette mich jetzt, edler Held, daß wir uns am erquickenden Schlafe ſättigen, denn ſeit mein Sohn geſtorben iſt, haben ſich meine Augenlieder nicht mehr geſchloſſen, und das erſtemal habe ich Fleiſch und Wein gekoſtet.“ Sofort befahl Achilles ſeinen Genoſſen und den Mäg¬ den, ein Bett unter die Halle zu ſtellen, mit Purpurpolſtern zu belegen, Teppiche drüber zu breiten, und zottige Män¬ tel als Decke darauf. So wurde jedem der Fremdlinge ein geſondertes Lager bereitet; und nun ſprach Achilles

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 310. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/332>, abgerufen am 28.04.2024.