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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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von Novalis entgegentritt. Hier ist schon eine gewisse Wiederkehr pse_186.002
der rhythmischen Struktur zu erkennen, eine bestimmte pse_186.003
Sprachbewegung.

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Heben sich dann deutliche Gliederungsformen unverkennbar pse_186.005
ab, dann betreten wir den Bereich der Verse. Hier nun pse_186.006
sind die zwei erwähnten Linien klar zu verfolgen. Zuerst die pse_186.007
Linie des vorherrschenden Versbaus. Aus der rhythmischen pse_186.008
Prosa kann man sich -- natürlich nicht geschichtlich, sondern pse_186.009
in dichterischen Seinsformen aufsteigend -- eine sprachliche pse_186.010
Gestaltung von immer größerer Regelmäßigkeit herauswachsen pse_186.011
denken; daraus wird endlich ein klar beschreibbares und pse_186.012
vernehmbares Schema, das abgelöst und für sich betrachtet pse_186.013
werden kann: das Metrum. Der Reim hilft bei der Heraushebung. pse_186.014
Diese Formen treffen wir, um nur Hauptpunkte pse_186.015
deutscher Entwicklung zu erwähnen, in Otfrieds Evangeliendichtung pse_186.016
im 9. Jahrhundert, in der mittelalterlichen Strophik, pse_186.017
in den Forderungen reinen Wechsels von Hebung und Senkung pse_186.018
bei Opitz, in der reinsten und ausgeprägtesten Form in pse_186.019
der Gedankenlyrik Schillers. Aber auch in der Liedform der pse_186.020
Romantiker sind sie da. Dem Metrum müssen wir uns noch pse_186.021
zuwenden.

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Dann die Linie mit bewahrtem Satzbau. Auch hier zeigt pse_186.023
sich eine reiche Entfaltung, die auch in metrischen Formen pse_186.024
faßbar wird, aber doch immer deutlich eigengeprägte Verse pse_186.025
erzeugt. Trotz der möglichen Verflechtungen mit der anderen pse_186.026
Linie müssen hier die reinen Typen herausgehoben werden. pse_186.027
Diese Linie ist schon deutlich da mit der germanischen Stabreimdichtung, pse_186.028
tritt dann etwas zurück, und drängt seit pse_186.029
Klopstock wieder vor. Rein sprachkünstlerisch (und nicht pse_186.030
geschichtlich) gesehen, führt die Linie über bestimmte pse_186.031
Stufen.

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Die erste ist die Form des Hexameters; freilich muß hier pse_186.033
die deutsche Art beachtet werden. Vorstufen dazu sind die pse_186.034
Versuche der reinen Nachahmung der griechischen Längen pse_186.035
und Kürzen. Diese Versuche reichen teilweise noch bis zu pse_186.036
Goethe. Sie mußten an der anderen lautungsmäßigen Beschaffenheit pse_186.037
der deutschen Sprache scheitern, denn Länge und pse_186.038
Kürze sind im Deutschen nicht entscheidend. Maßgebend fürs

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von Novalis entgegentritt. Hier ist schon eine gewisse Wiederkehr pse_186.002
der rhythmischen Struktur zu erkennen, eine bestimmte pse_186.003
Sprachbewegung.

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Heben sich dann deutliche Gliederungsformen unverkennbar pse_186.005
ab, dann betreten wir den Bereich der Verse. Hier nun pse_186.006
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Prosa kann man sich — natürlich nicht geschichtlich, sondern pse_186.009
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denken; daraus wird endlich ein klar beschreibbares und pse_186.012
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werden kann: das Metrum. Der Reim hilft bei der Heraushebung. pse_186.014
Diese Formen treffen wir, um nur Hauptpunkte pse_186.015
deutscher Entwicklung zu erwähnen, in Otfrieds Evangeliendichtung pse_186.016
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bei Opitz, in der reinsten und ausgeprägtesten Form in pse_186.019
der Gedankenlyrik Schillers. Aber auch in der Liedform der pse_186.020
Romantiker sind sie da. Dem Metrum müssen wir uns noch pse_186.021
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Dann die Linie mit bewahrtem Satzbau. Auch hier zeigt pse_186.023
sich eine reiche Entfaltung, die auch in metrischen Formen pse_186.024
faßbar wird, aber doch immer deutlich eigengeprägte Verse pse_186.025
erzeugt. Trotz der möglichen Verflechtungen mit der anderen pse_186.026
Linie müssen hier die reinen Typen herausgehoben werden. pse_186.027
Diese Linie ist schon deutlich da mit der germanischen Stabreimdichtung, pse_186.028
tritt dann etwas zurück, und drängt seit pse_186.029
Klopstock wieder vor. Rein sprachkünstlerisch (und nicht pse_186.030
geschichtlich) gesehen, führt die Linie über bestimmte pse_186.031
Stufen.

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Die erste ist die Form des Hexameters; freilich muß hier pse_186.033
die deutsche Art beachtet werden. Vorstufen dazu sind die pse_186.034
Versuche der reinen Nachahmung der griechischen Längen pse_186.035
und Kürzen. Diese Versuche reichen teilweise noch bis zu pse_186.036
Goethe. Sie mußten an der anderen lautungsmäßigen Beschaffenheit pse_186.037
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Kürze sind im Deutschen nicht entscheidend. Maßgebend fürs

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[186/0202] pse_186.001 von Novalis entgegentritt. Hier ist schon eine gewisse Wiederkehr pse_186.002 der rhythmischen Struktur zu erkennen, eine bestimmte pse_186.003 Sprachbewegung. pse_186.004 Heben sich dann deutliche Gliederungsformen unverkennbar pse_186.005 ab, dann betreten wir den Bereich der Verse. Hier nun pse_186.006 sind die zwei erwähnten Linien klar zu verfolgen. Zuerst die pse_186.007 Linie des vorherrschenden Versbaus. Aus der rhythmischen pse_186.008 Prosa kann man sich — natürlich nicht geschichtlich, sondern pse_186.009 in dichterischen Seinsformen aufsteigend — eine sprachliche pse_186.010 Gestaltung von immer größerer Regelmäßigkeit herauswachsen pse_186.011 denken; daraus wird endlich ein klar beschreibbares und pse_186.012 vernehmbares Schema, das abgelöst und für sich betrachtet pse_186.013 werden kann: das Metrum. Der Reim hilft bei der Heraushebung. pse_186.014 Diese Formen treffen wir, um nur Hauptpunkte pse_186.015 deutscher Entwicklung zu erwähnen, in Otfrieds Evangeliendichtung pse_186.016 im 9. Jahrhundert, in der mittelalterlichen Strophik, pse_186.017 in den Forderungen reinen Wechsels von Hebung und Senkung pse_186.018 bei Opitz, in der reinsten und ausgeprägtesten Form in pse_186.019 der Gedankenlyrik Schillers. Aber auch in der Liedform der pse_186.020 Romantiker sind sie da. Dem Metrum müssen wir uns noch pse_186.021 zuwenden. pse_186.022 Dann die Linie mit bewahrtem Satzbau. Auch hier zeigt pse_186.023 sich eine reiche Entfaltung, die auch in metrischen Formen pse_186.024 faßbar wird, aber doch immer deutlich eigengeprägte Verse pse_186.025 erzeugt. Trotz der möglichen Verflechtungen mit der anderen pse_186.026 Linie müssen hier die reinen Typen herausgehoben werden. pse_186.027 Diese Linie ist schon deutlich da mit der germanischen Stabreimdichtung, pse_186.028 tritt dann etwas zurück, und drängt seit pse_186.029 Klopstock wieder vor. Rein sprachkünstlerisch (und nicht pse_186.030 geschichtlich) gesehen, führt die Linie über bestimmte pse_186.031 Stufen. pse_186.032 Die erste ist die Form des Hexameters; freilich muß hier pse_186.033 die deutsche Art beachtet werden. Vorstufen dazu sind die pse_186.034 Versuche der reinen Nachahmung der griechischen Längen pse_186.035 und Kürzen. Diese Versuche reichen teilweise noch bis zu pse_186.036 Goethe. Sie mußten an der anderen lautungsmäßigen Beschaffenheit pse_186.037 der deutschen Sprache scheitern, denn Länge und pse_186.038 Kürze sind im Deutschen nicht entscheidend. Maßgebend fürs

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 186. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/202>, abgerufen am 30.04.2024.