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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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pse_187.001
Deutsche ist der Daktylus (xxx); aber da es sehr verschiedene pse_187.002
Daktylen gibt, entstehen trotz einheitlichem Schema (6 Takte, pse_187.003
von denen 1-4 Daktylen oder Trochäen sein können, 5 immer pse_187.004
ein Daktylus, 6 immer ein Trochäus ist) sehr verschiedene pse_187.005
Hexameter, je nach dem Satzbau und der Satzbewegung. pse_187.006
Doch man darf wohl nicht so weit gehen wie F. G. Jünger pse_187.007
("Rhythmus und Sprache im deutschen Gedicht") und an allen pse_187.008
möglichen Stellen (z. B. auch bei Luther) Hexameter hören. pse_187.009
Es handelt sich hier eher um einen Urvers, der dem deutschen pse_187.010
Satzablauf sehr entspricht: fallender Rhythmus (daktylisch pse_187.011
und trochäisch) von größerer Länge. Daraus hat sich einerseits pse_187.012
in der Auseinandersetzung mit der griechischen Metrik pse_187.013
der eigentliche deutsche Hexameter, andererseits eine Form pse_187.014
der freien Rhythmen entwickelt. Eine weitere Stufe stellen die pse_187.015
Verse der Odenstrophen dar: darunter sind die seit Klopstock pse_187.016
und Hölderlin bekannten, der Antike nachgebildeten Odenformen pse_187.017
gemeint. Hier herrscht Spannung zwischen Metrum pse_187.018
und Satzbewegung. Ein Beispiel boten die Verse aus Hölderlins pse_187.019
"Gefesseltem Strom" (S. 171). Der Unterschied zur Prosa pse_187.020
ist sehr deutlich, denn man fühlt das doppelte Kontinuum des pse_187.021
Verses und der Satzbewegung. Die dritte Stufe nennt man pse_187.022
meist freie Rhythmen. Aber eine Bindung ist da: Vers und pse_187.023
Satz dürfen sich nicht gegenseitig verletzen. In dreifacher Abwandlung pse_187.024
begegnen uns diese Verse, die eine höchste rhythmische pse_187.025
Stilisierung bedeuten, ebenso wie die künstlerische pse_187.026
Vollendung der metrischen Form, etwa bei Schiller. 1. Der pse_187.027
altgermanische Vers: zwei Halbverse werden zum Langvers pse_187.028
verbunden; der Stabreim (s. u.) bindet die Sinnträger und pse_187.029
zugleich die Halbverse zur Einheit und schafft eine starke Ausprägung pse_187.030
zweier Hebungen in jedem Halbvers; die Zahl der pse_187.031
Senkungen ist frei. So entsteht eine metrisch nicht faßbare, pse_187.032
aber aus dem Gehalt, dem Stabreim und dem Zahlgefühl pse_187.033
erwachsende Rhythmik von besonderer Prägung und heftiger, pse_187.034
oft wilder Bewegtheit. Zwei Verse aus dem Hildebrandslied:

pse_187.035
pse_187.036
Sunufatarungo iro saro rihtun, pse_187.037
garutun se iro gudhamun, gurtun sih iro swert ana ...

pse_187.001
Deutsche ist der Daktylus (x́xx); aber da es sehr verschiedene pse_187.002
Daktylen gibt, entstehen trotz einheitlichem Schema (6 Takte, pse_187.003
von denen 1–4 Daktylen oder Trochäen sein können, 5 immer pse_187.004
ein Daktylus, 6 immer ein Trochäus ist) sehr verschiedene pse_187.005
Hexameter, je nach dem Satzbau und der Satzbewegung. pse_187.006
Doch man darf wohl nicht so weit gehen wie F. G. Jünger pse_187.007
(»Rhythmus und Sprache im deutschen Gedicht«) und an allen pse_187.008
möglichen Stellen (z. B. auch bei Luther) Hexameter hören. pse_187.009
Es handelt sich hier eher um einen Urvers, der dem deutschen pse_187.010
Satzablauf sehr entspricht: fallender Rhythmus (daktylisch pse_187.011
und trochäisch) von größerer Länge. Daraus hat sich einerseits pse_187.012
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der eigentliche deutsche Hexameter, andererseits eine Form pse_187.014
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ist sehr deutlich, denn man fühlt das doppelte Kontinuum des pse_187.021
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meist freie Rhythmen. Aber eine Bindung ist da: Vers und pse_187.023
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Stilisierung bedeuten, ebenso wie die künstlerische pse_187.026
Vollendung der metrischen Form, etwa bei Schiller. 1. Der pse_187.027
altgermanische Vers: zwei Halbverse werden zum Langvers pse_187.028
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zugleich die Halbverse zur Einheit und schafft eine starke Ausprägung pse_187.030
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Senkungen ist frei. So entsteht eine metrisch nicht faßbare, pse_187.032
aber aus dem Gehalt, dem Stabreim und dem Zahlgefühl pse_187.033
erwachsende Rhythmik von besonderer Prägung und heftiger, pse_187.034
oft wilder Bewegtheit. Zwei Verse aus dem Hildebrandslied:

pse_187.035
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[187/0203] pse_187.001 Deutsche ist der Daktylus (x́xx); aber da es sehr verschiedene pse_187.002 Daktylen gibt, entstehen trotz einheitlichem Schema (6 Takte, pse_187.003 von denen 1–4 Daktylen oder Trochäen sein können, 5 immer pse_187.004 ein Daktylus, 6 immer ein Trochäus ist) sehr verschiedene pse_187.005 Hexameter, je nach dem Satzbau und der Satzbewegung. pse_187.006 Doch man darf wohl nicht so weit gehen wie F. G. Jünger pse_187.007 (»Rhythmus und Sprache im deutschen Gedicht«) und an allen pse_187.008 möglichen Stellen (z. B. auch bei Luther) Hexameter hören. pse_187.009 Es handelt sich hier eher um einen Urvers, der dem deutschen pse_187.010 Satzablauf sehr entspricht: fallender Rhythmus (daktylisch pse_187.011 und trochäisch) von größerer Länge. Daraus hat sich einerseits pse_187.012 in der Auseinandersetzung mit der griechischen Metrik pse_187.013 der eigentliche deutsche Hexameter, andererseits eine Form pse_187.014 der freien Rhythmen entwickelt. Eine weitere Stufe stellen die pse_187.015 Verse der Odenstrophen dar: darunter sind die seit Klopstock pse_187.016 und Hölderlin bekannten, der Antike nachgebildeten Odenformen pse_187.017 gemeint. Hier herrscht Spannung zwischen Metrum pse_187.018 und Satzbewegung. Ein Beispiel boten die Verse aus Hölderlins pse_187.019 »Gefesseltem Strom« (S. 171). Der Unterschied zur Prosa pse_187.020 ist sehr deutlich, denn man fühlt das doppelte Kontinuum des pse_187.021 Verses und der Satzbewegung. Die dritte Stufe nennt man pse_187.022 meist freie Rhythmen. Aber eine Bindung ist da: Vers und pse_187.023 Satz dürfen sich nicht gegenseitig verletzen. In dreifacher Abwandlung pse_187.024 begegnen uns diese Verse, die eine höchste rhythmische pse_187.025 Stilisierung bedeuten, ebenso wie die künstlerische pse_187.026 Vollendung der metrischen Form, etwa bei Schiller. 1. Der pse_187.027 altgermanische Vers: zwei Halbverse werden zum Langvers pse_187.028 verbunden; der Stabreim (s. u.) bindet die Sinnträger und pse_187.029 zugleich die Halbverse zur Einheit und schafft eine starke Ausprägung pse_187.030 zweier Hebungen in jedem Halbvers; die Zahl der pse_187.031 Senkungen ist frei. So entsteht eine metrisch nicht faßbare, pse_187.032 aber aus dem Gehalt, dem Stabreim und dem Zahlgefühl pse_187.033 erwachsende Rhythmik von besonderer Prägung und heftiger, pse_187.034 oft wilder Bewegtheit. Zwei Verse aus dem Hildebrandslied: pse_187.035 pse_187.036 Sunufatarungo iro saro rihtun, pse_187.037 garutun se iro guðhamun, gurtun sih iro swert ana ...

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 187. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/203>, abgerufen am 30.04.2024.