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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Diese fortschreitende Stilisierung durch den Rhythmus auf pse_189.002
den zwei angedeuteten Linien läßt dreierlei erkennen: Auf pse_189.003
diesem Weg wird die Lautung immer wesentlicher in das pse_189.004
Stilganze eingefügt, das Sprachkunstwerk gewinnt an künstlerischer pse_189.005
Fülligkeit; durch das starke Hervortreten des Rhythmus pse_189.006
als des durchgehenden Gestaltungsprinzips rückt das pse_189.007
Sprachkunstwerk vom gestalteten Erfahrungsbereich immer pse_189.008
mehr in einen Bereich reiner geistiger Schöpfung hinüber; pse_189.009
diese Verdichtung ins geistig Wesenhafte erfließt aus bestimmter pse_189.010
Gemütshaltung, so daß die ganze Sprachgestaltung dadurch pse_189.011
bedingt erscheint.

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Wir müssen uns nun den metrischen Formen zuwenden, die pse_189.013
ja nicht nur das Wesen der ersten Entwicklungslinie in die pse_189.014
höchste Rhythmisierung bestimmen, sondern überhaupt für pse_189.015
die Verskunst von entscheidender Bedeutung sind. Unter pse_189.016
Metrum verstehen wir ein abstrahiertes Schema rhythmischer pse_189.017
Geordnetheit, das im Sprachwerk verwirklicht wird. Aus dem pse_189.018
Metrum entstehen strenge, aber geschichtlich bedingte Formen. pse_189.019
Sie unterscheiden sich in ihrer Durchführung in den pse_189.020
einzelnen Sprachen. Besonders in den antiken Sprachen ist das pse_189.021
Metrum in der Verskunst wichtig. Die rhythmische Hebung pse_189.022
ist durch die Länge gekennzeichnet, der normale Wortakzent pse_189.023
vor allem durch die Tonhöhe. Durch die strenge metrische pse_189.024
Form entsteht der Eindruck der Geschlossenheit, der Dauer und pse_189.025
der Vollendung in griechischen Verswerken. In den romanischen pse_189.026
Sprachen herrscht eine Ausgeglichenheit der Lautungsreihen pse_189.027
vor, es wirkt ein Sinn für Silbenzahl. Im französischen Vers pse_189.028
stehen sich zwei Prinzipien gegenüber, wovon das erste besonders pse_189.029
in der klassischen Zeit vorherrschend war, das andere pse_189.030
seit der Romantik mehr vordringt: jenes ist das Alternieren, pse_189.031
d. h. regelmäßiger Wechsel von Hebung und Senkung; pse_189.032
dieses betont mehr die Wiederkehr gleicher Zeitglieder, wobei pse_189.033
die Tonstärke eine Rolle spielt. Die Versform bildet ein pse_189.034
festes Maß der Schließung. Im germanischen Vers (also heute pse_189.035
vor allem im deutschen und englischen) herrscht der Starkton pse_189.036
in Akzent und Rhythmus vor, daher wird Einklang von pse_189.037
rhythmischer Hebung und Wortbetonung nötig. Die Sprache pse_189.038
erscheint hier wichtiger als das Metrum. Während das alternierende

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Stilganze eingefügt, das Sprachkunstwerk gewinnt an künstlerischer pse_189.005
Fülligkeit; durch das starke Hervortreten des Rhythmus pse_189.006
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Gemütshaltung, so daß die ganze Sprachgestaltung dadurch pse_189.011
bedingt erscheint.

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 189. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/205>, abgerufen am 30.04.2024.