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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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pse_188.001

2. Goethes Verse in seinen Hymnen:

pse_188.002

Spute dich Kronos! pse_188.003
Fort den rasselnden Trott! pse_188.004
Bergab gleitet der Weg; pse_188.005
Ekles Schwindeln zögert pse_188.006
Mir vor die Stirne dein Haudern. pse_188.007
Frisch, holpert es gleich, pse_188.008
Über Stock und Stein den Trott pse_188.009
Rasch ins Leben hinein!
(Schwager Kronos)

pse_188.010

Es sind Verse mit einer selbstverständlichen Begrenzung pse_188.011
durch Sinntakte, Vers und Satz verletzen sich nicht gegenseitig, pse_188.012
doch die Verse zeigen eine gewisse Regelmäßigkeit pse_188.013
der Hebungsverteilung.

pse_188.014

3. Hölderlins Hymnenverse:

pse_188.015

Nah ist pse_188.016
Und schwer zu fassen der Gott. pse_188.017
Wo aber Gefahr ist, wächst pse_188.018
Das Rettende auch. pse_188.019
Im Finstern wohnen pse_188.020
Die Adler und furchtlos gehn pse_188.021
Die Söhne der Alpen über den Abgrund weg pse_188.022
Auf leicht gebaueten Brücken. pse_188.023
Drum, da gehäuft sind rings pse_188.024
Die Gipfel der Zeit und die Liebsten pse_188.025
Nahe wohnen, ermattend auf pse_188.026
Getrenntesten Bergen, pse_188.027
So gib unschuldig Wasser, pse_188.028
O Fittige gib uns, treuesten Sinns pse_188.029
Hinüberzugehn und wiederzukehren.
(Patmos)

pse_188.030

Die Verse erscheinen unregelmäßig und willkürlich. Aber die pse_188.031
Versenden hängen mit den rhythmischen Gipfeln zusammen: pse_188.032
entweder stoßen durch diese Verstrennung rhythmische pse_188.033
Gipfel zusammen, oder ein solcher bildet das Versende, oder pse_188.034
das Versende weckt Spannung auf ihn. So sind Stauung pse_188.035
und Spannungsladung die Kennzeichen. Daraus entstehen pse_188.036
Wucht, tiefe Gliederung, deutliche Kraftfelder. -- Also auch pse_188.037
die freien Rhythmen haben eine deutliche und strenge pse_188.038
Rhythmik, abgehoben von jeder anderen, auch sehr von der pse_188.039
rhythmischen Prosa. Auch sie sind eine Höchstform rhythmischer pse_188.040
Gestaltung.

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Fort den rasselnden Trott! pse_188.004
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Ekles Schwindeln zögert pse_188.006
Mir vor die Stirne dein Haudern. pse_188.007
Frisch, holpert es gleich, pse_188.008
Über Stock und Stein den Trott pse_188.009
Rasch ins Leben hinein!
(Schwager Kronos)

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doch die Verse zeigen eine gewisse Regelmäßigkeit pse_188.013
der Hebungsverteilung.

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Die Söhne der Alpen über den Abgrund weg pse_188.022
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Die Gipfel der Zeit und die Liebsten pse_188.025
Nahe wohnen, ermattend auf pse_188.026
Getrenntesten Bergen, pse_188.027
So gib unschuldig Wasser, pse_188.028
O Fittige gib uns, treuesten Sinns pse_188.029
Hinüberzugehn und wiederzukehren.
(Patmos)

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[188/0204] pse_188.001 2. Goethes Verse in seinen Hymnen: pse_188.002 Spute dich Kronos! pse_188.003 Fort den rasselnden Trott! pse_188.004 Bergab gleitet der Weg; pse_188.005 Ekles Schwindeln zögert pse_188.006 Mir vor die Stirne dein Haudern. pse_188.007 Frisch, holpert es gleich, pse_188.008 Über Stock und Stein den Trott pse_188.009 Rasch ins Leben hinein! (Schwager Kronos) pse_188.010 Es sind Verse mit einer selbstverständlichen Begrenzung pse_188.011 durch Sinntakte, Vers und Satz verletzen sich nicht gegenseitig, pse_188.012 doch die Verse zeigen eine gewisse Regelmäßigkeit pse_188.013 der Hebungsverteilung. pse_188.014 3. Hölderlins Hymnenverse: pse_188.015 Nah ist pse_188.016 Und schwer zu fassen der Gott. pse_188.017 Wo aber Gefahr ist, wächst pse_188.018 Das Rettende auch. pse_188.019 Im Finstern wohnen pse_188.020 Die Adler und furchtlos gehn pse_188.021 Die Söhne der Alpen über den Abgrund weg pse_188.022 Auf leicht gebaueten Brücken. pse_188.023 Drum, da gehäuft sind rings pse_188.024 Die Gipfel der Zeit und die Liebsten pse_188.025 Nahe wohnen, ermattend auf pse_188.026 Getrenntesten Bergen, pse_188.027 So gib unschuldig Wasser, pse_188.028 O Fittige gib uns, treuesten Sinns pse_188.029 Hinüberzugehn und wiederzukehren. (Patmos) pse_188.030 Die Verse erscheinen unregelmäßig und willkürlich. Aber die pse_188.031 Versenden hängen mit den rhythmischen Gipfeln zusammen: pse_188.032 entweder stoßen durch diese Verstrennung rhythmische pse_188.033 Gipfel zusammen, oder ein solcher bildet das Versende, oder pse_188.034 das Versende weckt Spannung auf ihn. So sind Stauung pse_188.035 und Spannungsladung die Kennzeichen. Daraus entstehen pse_188.036 Wucht, tiefe Gliederung, deutliche Kraftfelder. — Also auch pse_188.037 die freien Rhythmen haben eine deutliche und strenge pse_188.038 Rhythmik, abgehoben von jeder anderen, auch sehr von der pse_188.039 rhythmischen Prosa. Auch sie sind eine Höchstform rhythmischer pse_188.040 Gestaltung.

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 188. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/204>, abgerufen am 30.04.2024.