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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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pse_193.001

Endlich bietet auch der Versschluß Stilmöglichkeiten: er kann pse_193.002
stumpf oder klingend sein; dabei kommt es wieder darauf an, pse_193.003
ob viele stumpfe oder klingende einander folgen, ob starker pse_193.004
Wechsel da ist oder endlich, ob und welche Verse in den pse_193.005
nächsten übergehen (Zeilensprung, Enjambement).

pse_193.006
Die metrische Gestaltung hängt auch davon ab, ob die pse_193.007
Takte je für sich stehen oder zu Gruppen, meist von zweien, pse_193.008
zusammengefaßt werden. Das Schema zweier Verse kann pse_193.009
äußerlich gleich sein, und doch ist ihr Rhythmus ganz verschieden. pse_193.010
Wir stellen nebeneinander:

pse_193.011

Und frische Nahrung, neues Blut ...
(Goethe, Auf dem See) pse_193.012
In allen Wipfeln spürest du ...
(Goethe, Ein gleiches)

pse_193.013

Absichtlich sind im zweiten Beispiel zwei Verse in einen geschrieben pse_193.014
worden, um die Bedeutung der Versgrenze gleich pse_193.015
deutlich zu machen. Aber es sind noch folgende Unterschiede pse_193.016
da: die Hebungen im ersten Vers sind stärker; das Tempo, pse_193.017
durch den Gehalt bedingt, ist verschieden; der erste Vers ist pse_193.018
der Gedichtanfang, der zweite nicht; die Wirkung des mit pse_193.019
Konsonant schließenden Wortes "Blut" ist anders als "Du", das pse_193.020
offen liegt und auf den Reim mit "Ruh" vorbereitet. Hier pse_193.021
erkennen wir, daß andere Lautungskräfte mitwirken, sogar pse_193.022
Sinn und Wortgehalt. Manchmal aber dürften auch die metrischen pse_193.023
Schemata, die auf den ersten Blick gleich scheinen, verschieden pse_193.024
sein; die durch den Gehalt bedingte Gesamtlautungsgestalt pse_193.025
ist hier entscheidend bei der Beurteilung. So liegt wohl pse_193.026
sicher in den folgenden beiden Versreihen von Faust II auch pse_193.027
verschiedenes Metrum vor:

pse_193.028

[Beginn Spaltensatz]

Leichter umschweb ich hie pse_193.029
Muntres Geschlecht. pse_193.030
Ist nun die Melodie, pse_193.031
Ist die Bewegung recht?
[Spaltenumbruch] pse_193.101
Heilige Poesie pse_193.102
Himmelan steige sie! pse_193.103
Glänze der schönste Stern, pse_193.104
Fern und so weiter fern.
[Ende Spaltensatz]

pse_193.105
Wichtig für die stilhafte Wirkung ist dann auch die Spannung pse_193.106
zwischen der Satzbewegung und dem Metrum. Wenn pse_193.107
eine Senkung sinnschwer ist und eine Hebung dagegen gedrückt pse_193.108
wird, spricht man von schwebender Betonung.

pse_193.109

Dumpf brausend wie des Meeres Wogen
(Schiller, Kraniche)

pse_193.001

Endlich bietet auch der Versschluß Stilmöglichkeiten: er kann pse_193.002
stumpf oder klingend sein; dabei kommt es wieder darauf an, pse_193.003
ob viele stumpfe oder klingende einander folgen, ob starker pse_193.004
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nächsten übergehen (Zeilensprung, Enjambement).

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Die metrische Gestaltung hängt auch davon ab, ob die pse_193.007
Takte je für sich stehen oder zu Gruppen, meist von zweien, pse_193.008
zusammengefaßt werden. Das Schema zweier Verse kann pse_193.009
äußerlich gleich sein, und doch ist ihr Rhythmus ganz verschieden. pse_193.010
Wir stellen nebeneinander:

pse_193.011

Und frische Nahrung, neues Blut ...
(Goethe, Auf dem See) pse_193.012
In allen Wipfeln spürest du ...
(Goethe, Ein gleiches)

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Absichtlich sind im zweiten Beispiel zwei Verse in einen geschrieben pse_193.014
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Konsonant schließenden Wortes »Blut« ist anders als »Du«, das pse_193.020
offen liegt und auf den Reim mit »Ruh« vorbereitet. Hier pse_193.021
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Sinn und Wortgehalt. Manchmal aber dürften auch die metrischen pse_193.023
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sicher in den folgenden beiden Versreihen von Faust II auch pse_193.027
verschiedenes Metrum vor:

pse_193.028

[Beginn Spaltensatz]

Leichter umschweb ich hie pse_193.029
Muntres Geschlecht. pse_193.030
Ist nun die Melodie, pse_193.031
Ist die Bewegung recht?
[Spaltenumbruch] pse_193.101
Heilige Poesie pse_193.102
Himmelan steige sie! pse_193.103
Glänze der schönste Stern, pse_193.104
Fern und so weiter fern.
[Ende Spaltensatz]

pse_193.105
Wichtig für die stilhafte Wirkung ist dann auch die Spannung pse_193.106
zwischen der Satzbewegung und dem Metrum. Wenn pse_193.107
eine Senkung sinnschwer ist und eine Hebung dagegen gedrückt pse_193.108
wird, spricht man von schwebender Betonung.

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(Schiller, Kraniche)

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[193/0209] pse_193.001 Endlich bietet auch der Versschluß Stilmöglichkeiten: er kann pse_193.002 stumpf oder klingend sein; dabei kommt es wieder darauf an, pse_193.003 ob viele stumpfe oder klingende einander folgen, ob starker pse_193.004 Wechsel da ist oder endlich, ob und welche Verse in den pse_193.005 nächsten übergehen (Zeilensprung, Enjambement). pse_193.006 Die metrische Gestaltung hängt auch davon ab, ob die pse_193.007 Takte je für sich stehen oder zu Gruppen, meist von zweien, pse_193.008 zusammengefaßt werden. Das Schema zweier Verse kann pse_193.009 äußerlich gleich sein, und doch ist ihr Rhythmus ganz verschieden. pse_193.010 Wir stellen nebeneinander: pse_193.011 Und frische Nahrung, neues Blut ... (Goethe, Auf dem See) pse_193.012 In allen Wipfeln spürest du ... (Goethe, Ein gleiches) pse_193.013 Absichtlich sind im zweiten Beispiel zwei Verse in einen geschrieben pse_193.014 worden, um die Bedeutung der Versgrenze gleich pse_193.015 deutlich zu machen. Aber es sind noch folgende Unterschiede pse_193.016 da: die Hebungen im ersten Vers sind stärker; das Tempo, pse_193.017 durch den Gehalt bedingt, ist verschieden; der erste Vers ist pse_193.018 der Gedichtanfang, der zweite nicht; die Wirkung des mit pse_193.019 Konsonant schließenden Wortes »Blut« ist anders als »Du«, das pse_193.020 offen liegt und auf den Reim mit »Ruh« vorbereitet. Hier pse_193.021 erkennen wir, daß andere Lautungskräfte mitwirken, sogar pse_193.022 Sinn und Wortgehalt. Manchmal aber dürften auch die metrischen pse_193.023 Schemata, die auf den ersten Blick gleich scheinen, verschieden pse_193.024 sein; die durch den Gehalt bedingte Gesamtlautungsgestalt pse_193.025 ist hier entscheidend bei der Beurteilung. So liegt wohl pse_193.026 sicher in den folgenden beiden Versreihen von Faust II auch pse_193.027 verschiedenes Metrum vor: pse_193.028 Leichter umschweb ich hie pse_193.029 Muntres Geschlecht. pse_193.030 Ist nun die Melodie, pse_193.031 Ist die Bewegung recht? pse_193.101 Heilige Poesie pse_193.102 Himmelan steige sie! pse_193.103 Glänze der schönste Stern, pse_193.104 Fern und so weiter fern. pse_193.105 Wichtig für die stilhafte Wirkung ist dann auch die Spannung pse_193.106 zwischen der Satzbewegung und dem Metrum. Wenn pse_193.107 eine Senkung sinnschwer ist und eine Hebung dagegen gedrückt pse_193.108 wird, spricht man von schwebender Betonung. pse_193.109 Dumpf brausend wie des Meeres Wogen (Schiller, Kraniche)

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/209>, abgerufen am 30.04.2024.