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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Die erste Silbe ist keine reine Senkung und die zweite keine pse_194.002
reine Hebung, wie das jambische Schema verlangte. Aber pse_194.003
diese Gleichgewogenheit, die sich aus der Sinnbewegung pse_194.004
ergibt, dämpft und dehnt zugleich und treibt den Gehalt des pse_194.005
Wortes erst recht heraus. Schwebende Betonung, das heißt pse_194.006
also Spannung zwischen Vers- und Wortbetonung, muß kein pse_194.007
Stilunwert sein, im Gegenteil: es können besondere gehaltintensivierende pse_194.008
Wirkungen entstehen; aber nur deshalb, weil pse_194.009
eben das metrische Schema durchklingt; sonst gäbe es ja keine pse_194.010
Spannung. Freilich kann, versgeschichtlich gesehen, immer pse_194.011
stärkeres Vordringen schwebender Betonung auch eine langsam pse_194.012
sich vollziehende Befreiung von den bisher bindenden pse_194.013
Gesetzen bedeuten. Solcher Befreiungskampf gegen Formgesetze pse_194.014
kann neuen Stilwerten der Sprache zum Licht verhelfen. pse_194.015
Aber jede intensivierte rhythmische Gestaltung enthält pse_194.016
im Untergrund ein bindendes rhythmisches Gesetz. Fehlt pse_194.017
ein solches vollkommen, so wird der Vers zerstört. Es ist sehr pse_194.018
die Frage, ob man bei gewissen Experimenten übermoderner pse_194.019
Lyriker noch von Versen reden kann. Die Gefahr der Zersetzung pse_194.020
und der Auflösung ist da. Denn keine Kunst ohne pse_194.021
bindende Gesetze.

pse_194.022
Neben dem Rhythmus spielen noch andere sprachliche pse_194.023
Kräfte im Lautungsablauf eine Rolle. Über drei gehen wir pse_194.024
ganz kurz hinweg. Schwer ist die Melodie zu erfassen, weil pse_194.025
leicht die subjektive Art des Vortragenden sich vordrängt. pse_194.026
Aber daß die Folge der hohen und tiefen Tonlagen, besonders pse_194.027
der Sinn- und Stimmungsträger -- und nur das sollte man als pse_194.028
Sprachmelodie fassen --, auch zum Charakter eines Sprachkunstwerks pse_194.029
beiträgt, ist sicher. Gebrochene Tonfolgen, pse_194.030
deren Hebungen in der Höhe wechseln, gestalten Erregung, pse_194.031
stetige dagegen gewisse Ausgeglichenheit. Es gibt in den pse_194.032
Sprachgebilden auch eine bestimmte Klangart: alles was mit pse_194.033
dem Tonlichen des Sprechens zusammenhängt: Lage der Tonhöhe, pse_194.034
Fülle des Stimmklangs, bedecktes und freies, ruhiges pse_194.035
und vibrierendes Sprechen. Die Sprechart hängt vor allem von pse_194.036
der Lautgestaltung, von der Artikulation, ab. Trotz des pse_194.037
Reimes wirken "Brocken" und "Glocken" ganz verschieden, pse_194.038
weil die Anfangskonsonanten in ihrer Art ganz verschieden

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Die erste Silbe ist keine reine Senkung und die zweite keine pse_194.002
reine Hebung, wie das jambische Schema verlangte. Aber pse_194.003
diese Gleichgewogenheit, die sich aus der Sinnbewegung pse_194.004
ergibt, dämpft und dehnt zugleich und treibt den Gehalt des pse_194.005
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also Spannung zwischen Vers- und Wortbetonung, muß kein pse_194.007
Stilunwert sein, im Gegenteil: es können besondere gehaltintensivierende pse_194.008
Wirkungen entstehen; aber nur deshalb, weil pse_194.009
eben das metrische Schema durchklingt; sonst gäbe es ja keine pse_194.010
Spannung. Freilich kann, versgeschichtlich gesehen, immer pse_194.011
stärkeres Vordringen schwebender Betonung auch eine langsam pse_194.012
sich vollziehende Befreiung von den bisher bindenden pse_194.013
Gesetzen bedeuten. Solcher Befreiungskampf gegen Formgesetze pse_194.014
kann neuen Stilwerten der Sprache zum Licht verhelfen. pse_194.015
Aber jede intensivierte rhythmische Gestaltung enthält pse_194.016
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ein solches vollkommen, so wird der Vers zerstört. Es ist sehr pse_194.018
die Frage, ob man bei gewissen Experimenten übermoderner pse_194.019
Lyriker noch von Versen reden kann. Die Gefahr der Zersetzung pse_194.020
und der Auflösung ist da. Denn keine Kunst ohne pse_194.021
bindende Gesetze.

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Neben dem Rhythmus spielen noch andere sprachliche pse_194.023
Kräfte im Lautungsablauf eine Rolle. Über drei gehen wir pse_194.024
ganz kurz hinweg. Schwer ist die Melodie zu erfassen, weil pse_194.025
leicht die subjektive Art des Vortragenden sich vordrängt. pse_194.026
Aber daß die Folge der hohen und tiefen Tonlagen, besonders pse_194.027
der Sinn- und Stimmungsträger — und nur das sollte man als pse_194.028
Sprachmelodie fassen —, auch zum Charakter eines Sprachkunstwerks pse_194.029
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deren Hebungen in der Höhe wechseln, gestalten Erregung, pse_194.031
stetige dagegen gewisse Ausgeglichenheit. Es gibt in den pse_194.032
Sprachgebilden auch eine bestimmte Klangart: alles was mit pse_194.033
dem Tonlichen des Sprechens zusammenhängt: Lage der Tonhöhe, pse_194.034
Fülle des Stimmklangs, bedecktes und freies, ruhiges pse_194.035
und vibrierendes Sprechen. Die Sprechart hängt vor allem von pse_194.036
der Lautgestaltung, von der Artikulation, ab. Trotz des pse_194.037
Reimes wirken »Brocken« und »Glocken« ganz verschieden, pse_194.038
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/210>, abgerufen am 30.04.2024.