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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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die Welt tut sich so auf, oder im Gleichklang wird die gehaltliche pse_196.002
Unvereinbarkeit besonders aufdringlich, so daß die Gehalte pse_196.003
erst recht auseinandertreten. Die Alliteration ist der pse_196.004
Gleichklang von Wortanlauten. Sie bindet die Worte aneinander pse_196.005
und treibt ihren Gehalt heraus, indem zugleich der pse_196.006
Laut selbst seine Werte entfaltet:

pse_196.007

Und wie's auch rast und ringt und rennt, pse_196.008
Wir kriegen es unter, das Element.
pse_196.009
(Fontane, Brücke am Tay)

pse_196.010

Eine besondere Form der Alliteration ist der Stabreim. Wir pse_196.011
sprechen von ihm nur im altgermanischen Vers und in dessen pse_196.012
Nachahmungen (z. B. R. Wagner). Er bindet die Hebungen, pse_196.013
die ja zugleich Sinnträger sind, zusammen und formt so den pse_196.014
Vers. Da er nur die Gipfel zusammenfaßt, entsteht eine starke pse_196.015
Bewegung.

pse_196.016

Laß den Winter uns warten und in Wonnen leben, pse_196.017
plaudern und trinken trefflichen Met pse_196.018
die Hunnen lehren Heerwaffenrüsten, pse_196.019
die wir kühn im Feld führen werden.
pse_196.020
(Hunnenschlachtlied, übers. Genzmer)

pse_196.021

Die Assonanz ist der Zusammenklang der Tonvokale mehrerer pse_196.022
Wörter. In dieser Bindung können die Vokale ausschwingen, pse_196.023
ein Gefühlsstrom wird lebendig. Besonders im pse_196.024
Spanischen und Italienischen entstehen solche Wirkungen. pse_196.025
Deutscher Meister ist Brentano. Die Assonanz kann Worte im pse_196.026
Versinnern binden oder auch am Versende. Die erste Strophe pse_196.027
von Hofmannsthals "Terzinen über Vergänglichkeit" ist pse_196.028
geradezu auf dem a-Laut aufgebaut:

pse_196.029
Noch spür ich ihren Atem auf den Wangen: pse_196.030
Wie kann das sein, daß diese nahen Tage pse_196.031
Fort sind, für immer fort, und ganz vergangen?
pse_196.032

Der Vollreim, der also die Worte vom Tonvokal an bindet, pse_196.033
steht meist am Versende. Er hat einen großen Funktionsreichtum. pse_196.034
Seine Vielgestaltigkeit tritt in den abendländischen pse_196.035
Sprachen an Stelle der reichgebauten antiken Strophik. Im pse_196.036
Italienischen und Spanischen hat er einen starken klanglichen

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die Welt tut sich so auf, oder im Gleichklang wird die gehaltliche pse_196.002
Unvereinbarkeit besonders aufdringlich, so daß die Gehalte pse_196.003
erst recht auseinandertreten. Die Alliteration ist der pse_196.004
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und treibt ihren Gehalt heraus, indem zugleich der pse_196.006
Laut selbst seine Werte entfaltet:

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Und wie's auch rast und ringt und rennt, pse_196.008
Wir kriegen es unter, das Element.
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pse_196.010

Eine besondere Form der Alliteration ist der Stabreim. Wir pse_196.011
sprechen von ihm nur im altgermanischen Vers und in dessen pse_196.012
Nachahmungen (z. B. R. Wagner). Er bindet die Hebungen, pse_196.013
die ja zugleich Sinnträger sind, zusammen und formt so den pse_196.014
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Laß den Winter uns warten und in Wonnen leben, pse_196.017
plaudern und trinken trefflichen Met pse_196.018
die Hunnen lehren Heerwaffenrüsten, pse_196.019
die wir kühn im Feld führen werden.
pse_196.020
(Hunnenschlachtlied, übers. Genzmer)

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Die Assonanz ist der Zusammenklang der Tonvokale mehrerer pse_196.022
Wörter. In dieser Bindung können die Vokale ausschwingen, pse_196.023
ein Gefühlsstrom wird lebendig. Besonders im pse_196.024
Spanischen und Italienischen entstehen solche Wirkungen. pse_196.025
Deutscher Meister ist Brentano. Die Assonanz kann Worte im pse_196.026
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Noch spür ich ihren Atem auf den Wangen: pse_196.030
Wie kann das sein, daß diese nahen Tage pse_196.031
Fort sind, für immer fort, und ganz vergangen?
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Der Vollreim, der also die Worte vom Tonvokal an bindet, pse_196.033
steht meist am Versende. Er hat einen großen Funktionsreichtum. pse_196.034
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[196/0212] pse_196.001 die Welt tut sich so auf, oder im Gleichklang wird die gehaltliche pse_196.002 Unvereinbarkeit besonders aufdringlich, so daß die Gehalte pse_196.003 erst recht auseinandertreten. Die Alliteration ist der pse_196.004 Gleichklang von Wortanlauten. Sie bindet die Worte aneinander pse_196.005 und treibt ihren Gehalt heraus, indem zugleich der pse_196.006 Laut selbst seine Werte entfaltet: pse_196.007 Und wie's auch rast und ringt und rennt, pse_196.008 Wir kriegen es unter, das Element. pse_196.009 (Fontane, Brücke am Tay) pse_196.010 Eine besondere Form der Alliteration ist der Stabreim. Wir pse_196.011 sprechen von ihm nur im altgermanischen Vers und in dessen pse_196.012 Nachahmungen (z. B. R. Wagner). Er bindet die Hebungen, pse_196.013 die ja zugleich Sinnträger sind, zusammen und formt so den pse_196.014 Vers. Da er nur die Gipfel zusammenfaßt, entsteht eine starke pse_196.015 Bewegung. pse_196.016 Laß den Winter uns warten und in Wonnen leben, pse_196.017 plaudern und trinken trefflichen Met pse_196.018 die Hunnen lehren Heerwaffenrüsten, pse_196.019 die wir kühn im Feld führen werden. pse_196.020 (Hunnenschlachtlied, übers. Genzmer) pse_196.021 Die Assonanz ist der Zusammenklang der Tonvokale mehrerer pse_196.022 Wörter. In dieser Bindung können die Vokale ausschwingen, pse_196.023 ein Gefühlsstrom wird lebendig. Besonders im pse_196.024 Spanischen und Italienischen entstehen solche Wirkungen. pse_196.025 Deutscher Meister ist Brentano. Die Assonanz kann Worte im pse_196.026 Versinnern binden oder auch am Versende. Die erste Strophe pse_196.027 von Hofmannsthals »Terzinen über Vergänglichkeit« ist pse_196.028 geradezu auf dem a-Laut aufgebaut: pse_196.029 Noch spür ich ihren Atem auf den Wangen: pse_196.030 Wie kann das sein, daß diese nahen Tage pse_196.031 Fort sind, für immer fort, und ganz vergangen? pse_196.032 Der Vollreim, der also die Worte vom Tonvokal an bindet, pse_196.033 steht meist am Versende. Er hat einen großen Funktionsreichtum. pse_196.034 Seine Vielgestaltigkeit tritt in den abendländischen pse_196.035 Sprachen an Stelle der reichgebauten antiken Strophik. Im pse_196.036 Italienischen und Spanischen hat er einen starken klanglichen

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/212>, abgerufen am 30.04.2024.