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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Wert, wird leicht zum Lautspiel. Er ist in diesen Sprachen, pse_197.002
auch wegen ihrer freieren Wortstellung, nicht so nötig wie pse_197.003
im Französischen, wo er oft allein beim strengen und klaren pse_197.004
Satzbau dieser Sprache Verse von Prosa abheben kann. So pse_197.005
hat schon Voltaire erkannt. Im Vollreim ist die sinnenthüllende pse_197.006
Kraft der gleichlautenden Gebilde am stärksten entfaltet. pse_197.007
Wenn einmal die Reimbewegung angelaufen ist, wirkt pse_197.008
das zweite Reimwort auf das erste zurück und läßt es noch pse_197.009
einmal in bestimmter Beleuchtung wirken, zugleich aber pse_197.010
wird die Erwartung auf das kommende Wort geweckt und pse_197.011
dieses sofort in eine bestimmte Lautungssphäre gehüllt. Die pse_197.012
Erwartung kann im gehaltlichen Zusammenstimmen erfüllt pse_197.013
oder im gehaltlichen Widerspruch enttäuscht werden, aber pse_197.014
immer entstehen auch Sinnerlebnisse. In den freien Versen pse_197.015
Wielands neckt uns oft das Reimwort, weil es wegen der pse_197.016
verschiedenen Länge der Verse bald zu früh, bald zu spät zu pse_197.017
kommen scheint. Auch einen architektonischen Wert hat pse_197.018
der Reim: nicht nur in den kunstvollen und verwickelten pse_197.019
Reimbindungen des Minnesangs etwa, wo der Strophenbau pse_197.020
damit die feste Form erhält, sondern auch heute noch, wo wir pse_197.021
in dieser Hinsicht nicht mehr so feinhörig sind. Der Reim pse_197.022
schafft aus Versen zusammenhängende Gebilde und enthebt pse_197.023
uns auch so dem Alltag. Gehaltlich erwirkt er oft Verschmelzung pse_197.024
der Wortgehalte wie in den berühmten Versen im pse_197.025
dritten Akt von Faust II, wo Faust Helena das Reimen lehrt. pse_197.026
Freilich kann er auch ästhetisch nachteilig werden. Er verhindert pse_197.027
oft kraftvolle, weitschwingende rhythmische Gebilde pse_197.028
und kann bei Abgedroschenheit (Herz -- Schmerz!) pse_197.029
oder bei zu großer Häufigkeit geradezu Unlust wecken.

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Schon bei Betrachtung einzelner rhythmischer und metrischer pse_197.031
Formen haben wir erkannt, daß andere Lautungskräfte pse_197.032
miteinwirken und damit dem Rhythmus eines bestimmten pse_197.033
Gedichts erst sein eigenes Gepräge geben. Das waren nur besondere pse_197.034
Fälle. Aber wir müssen uns jetzt bewußt werden, daß pse_197.035
auch in der Sprache als Lautung die Elemente nur theoretisch pse_197.036
herausgelöst und betrachtet werden, daß im Kunstwerk aber pse_197.037
alles zusammenwirkt. Diese Verflochtenheit aller Lautungskräfte pse_197.038
und ihr organisches Zusammenwirken nennen wir die

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Wert, wird leicht zum Lautspiel. Er ist in diesen Sprachen, pse_197.002
auch wegen ihrer freieren Wortstellung, nicht so nötig wie pse_197.003
im Französischen, wo er oft allein beim strengen und klaren pse_197.004
Satzbau dieser Sprache Verse von Prosa abheben kann. So pse_197.005
hat schon Voltaire erkannt. Im Vollreim ist die sinnenthüllende pse_197.006
Kraft der gleichlautenden Gebilde am stärksten entfaltet. pse_197.007
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das zweite Reimwort auf das erste zurück und läßt es noch pse_197.009
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wird die Erwartung auf das kommende Wort geweckt und pse_197.011
dieses sofort in eine bestimmte Lautungssphäre gehüllt. Die pse_197.012
Erwartung kann im gehaltlichen Zusammenstimmen erfüllt pse_197.013
oder im gehaltlichen Widerspruch enttäuscht werden, aber pse_197.014
immer entstehen auch Sinnerlebnisse. In den freien Versen pse_197.015
Wielands neckt uns oft das Reimwort, weil es wegen der pse_197.016
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kommen scheint. Auch einen architektonischen Wert hat pse_197.018
der Reim: nicht nur in den kunstvollen und verwickelten pse_197.019
Reimbindungen des Minnesangs etwa, wo der Strophenbau pse_197.020
damit die feste Form erhält, sondern auch heute noch, wo wir pse_197.021
in dieser Hinsicht nicht mehr so feinhörig sind. Der Reim pse_197.022
schafft aus Versen zusammenhängende Gebilde und enthebt pse_197.023
uns auch so dem Alltag. Gehaltlich erwirkt er oft Verschmelzung pse_197.024
der Wortgehalte wie in den berühmten Versen im pse_197.025
dritten Akt von Faust II, wo Faust Helena das Reimen lehrt. pse_197.026
Freilich kann er auch ästhetisch nachteilig werden. Er verhindert pse_197.027
oft kraftvolle, weitschwingende rhythmische Gebilde pse_197.028
und kann bei Abgedroschenheit (Herz — Schmerz!) pse_197.029
oder bei zu großer Häufigkeit geradezu Unlust wecken.

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Schon bei Betrachtung einzelner rhythmischer und metrischer pse_197.031
Formen haben wir erkannt, daß andere Lautungskräfte pse_197.032
miteinwirken und damit dem Rhythmus eines bestimmten pse_197.033
Gedichts erst sein eigenes Gepräge geben. Das waren nur besondere pse_197.034
Fälle. Aber wir müssen uns jetzt bewußt werden, daß pse_197.035
auch in der Sprache als Lautung die Elemente nur theoretisch pse_197.036
herausgelöst und betrachtet werden, daß im Kunstwerk aber pse_197.037
alles zusammenwirkt. Diese Verflochtenheit aller Lautungskräfte pse_197.038
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[197/0213] pse_197.001 Wert, wird leicht zum Lautspiel. Er ist in diesen Sprachen, pse_197.002 auch wegen ihrer freieren Wortstellung, nicht so nötig wie pse_197.003 im Französischen, wo er oft allein beim strengen und klaren pse_197.004 Satzbau dieser Sprache Verse von Prosa abheben kann. So pse_197.005 hat schon Voltaire erkannt. Im Vollreim ist die sinnenthüllende pse_197.006 Kraft der gleichlautenden Gebilde am stärksten entfaltet. pse_197.007 Wenn einmal die Reimbewegung angelaufen ist, wirkt pse_197.008 das zweite Reimwort auf das erste zurück und läßt es noch pse_197.009 einmal in bestimmter Beleuchtung wirken, zugleich aber pse_197.010 wird die Erwartung auf das kommende Wort geweckt und pse_197.011 dieses sofort in eine bestimmte Lautungssphäre gehüllt. Die pse_197.012 Erwartung kann im gehaltlichen Zusammenstimmen erfüllt pse_197.013 oder im gehaltlichen Widerspruch enttäuscht werden, aber pse_197.014 immer entstehen auch Sinnerlebnisse. In den freien Versen pse_197.015 Wielands neckt uns oft das Reimwort, weil es wegen der pse_197.016 verschiedenen Länge der Verse bald zu früh, bald zu spät zu pse_197.017 kommen scheint. Auch einen architektonischen Wert hat pse_197.018 der Reim: nicht nur in den kunstvollen und verwickelten pse_197.019 Reimbindungen des Minnesangs etwa, wo der Strophenbau pse_197.020 damit die feste Form erhält, sondern auch heute noch, wo wir pse_197.021 in dieser Hinsicht nicht mehr so feinhörig sind. Der Reim pse_197.022 schafft aus Versen zusammenhängende Gebilde und enthebt pse_197.023 uns auch so dem Alltag. Gehaltlich erwirkt er oft Verschmelzung pse_197.024 der Wortgehalte wie in den berühmten Versen im pse_197.025 dritten Akt von Faust II, wo Faust Helena das Reimen lehrt. pse_197.026 Freilich kann er auch ästhetisch nachteilig werden. Er verhindert pse_197.027 oft kraftvolle, weitschwingende rhythmische Gebilde pse_197.028 und kann bei Abgedroschenheit (Herz — Schmerz!) pse_197.029 oder bei zu großer Häufigkeit geradezu Unlust wecken. pse_197.030 Schon bei Betrachtung einzelner rhythmischer und metrischer pse_197.031 Formen haben wir erkannt, daß andere Lautungskräfte pse_197.032 miteinwirken und damit dem Rhythmus eines bestimmten pse_197.033 Gedichts erst sein eigenes Gepräge geben. Das waren nur besondere pse_197.034 Fälle. Aber wir müssen uns jetzt bewußt werden, daß pse_197.035 auch in der Sprache als Lautung die Elemente nur theoretisch pse_197.036 herausgelöst und betrachtet werden, daß im Kunstwerk aber pse_197.037 alles zusammenwirkt. Diese Verflochtenheit aller Lautungskräfte pse_197.038 und ihr organisches Zusammenwirken nennen wir die

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 197. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/213>, abgerufen am 30.04.2024.