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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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des Zweckverbandes verkörpert ist, aufheben und appelliert zugleich
an alle innigen und enthusiastischen Gefühle für die Gruppe, die sich
in dem Einzelnen erwecken lassen. Freilich ist der Sozialismus auf
eine Rationalisierung des Lebens gerichtet, auf die Beherrschung seiner
zufälligen und einzigartigen Elemente durch die Gesetzmässigkeiten und
Berechnungen des Verstandes; allein zugleich ist er den dumpfen
kommunistischen Instinkten wahlverwandt, die als Erbschaft längst ver-
schollener Zeiten noch in den abgelegneren Winkeln der Seelen ruhen.
In dieser Zweiheit von Motivierungen, deren psychische Standorte ein-
ander polar entgegengesetzt sind, und die ihn einerseits als das äusserste
Entwicklungsprodukt der rationalistischen Geldwirtschaft, andrerseits als
die Verkörperung des undifferenziertesten Instinktes und Gefühlslebens
zeigen, liegt wohl die Eigenart seiner Anziehungskraft: er ist Rationa-
lismus und Reaktion auf den Rationalismus. Der Sozialismus hat an der
alten Gentilverfassung mit ihrer kommunistischen Gleichheit sein be-
geisterndes Ideal gefunden, während das Geldwesen das Individuum
auf sich rückwärts konzentriert und ihm als Objekte der persönlichen
und Gemütshingabe einerseits nur die allerengsten individuellen Be-
ziehungen, wie Familie und Freundschaft, andrerseits nur den weitesten
Kreis, etwa des Vaterlandes oder der Menschheit überhaupt, übrig ge-
lassen hat -- beides soziale Bildungen, die sich, wenn auch aus ver-
schiedenen Gründen, der objektiven Vereinigung zu isolierten Zwecken
völlig fremd gegenüberstellen. Hier wird nun eine der umfassendsten
und tiefgreifendsten soziologischen Normen wirksam. Zu den wenigen
Regeln nämlich, die man mit annähernder Allgemeinheit für die Form
der sozialen Entwicklung aufstellen kann, gehört wohl diese: dass die
Erweiterung einer Gruppe Hand in Hand geht mit der Individuali-
sierung und Verselbständigung ihrer einzelnen Mitglieder. Die Evo-
lution der Gesellschaften pflegt mit einer relativ kleinen Gruppe zu
beginnen, welche ihre Elemente in strenger Bindung und Gleichartig-
keit hält, und zu einer relativ grossen vorzuschreiten, die ihren Ele-
menten Freiheit, Fürsichsein, gegenseitige Differenzierung gewährt.
Die Geschichte der Familienformen wie die der Religionsgemeinden,
die Entwicklung der Wirtschaftsgenossenschaften wie die der politischen
Parteien zeigt allenthalben diesen Typus. Die Bedeutung des Geldes
für die Entwicklung der Individualität steht deshalb in engstem Zu-
sammenhange mit der, die es für die Vergrösserung der sozialen Gruppen
besitzt. Für diese letztere bedarf es hier keines ausführlichen Beweises
mehr: die Wechselwirkung zwischen der Geldwirtschaft und der Grösse
des Wirtschaftskreises habe ich früher aufgezeigt. Je mehr Menschen
mit einander in Beziehung treten, desto abstrakter und allgemein-

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des Zweckverbandes verkörpert ist, aufheben und appelliert zugleich
an alle innigen und enthusiastischen Gefühle für die Gruppe, die sich
in dem Einzelnen erwecken lassen. Freilich ist der Sozialismus auf
eine Rationalisierung des Lebens gerichtet, auf die Beherrschung seiner
zufälligen und einzigartigen Elemente durch die Gesetzmäſsigkeiten und
Berechnungen des Verstandes; allein zugleich ist er den dumpfen
kommunistischen Instinkten wahlverwandt, die als Erbschaft längst ver-
schollener Zeiten noch in den abgelegneren Winkeln der Seelen ruhen.
In dieser Zweiheit von Motivierungen, deren psychische Standorte ein-
ander polar entgegengesetzt sind, und die ihn einerseits als das äuſserste
Entwicklungsprodukt der rationalistischen Geldwirtschaft, andrerseits als
die Verkörperung des undifferenziertesten Instinktes und Gefühlslebens
zeigen, liegt wohl die Eigenart seiner Anziehungskraft: er ist Rationa-
lismus und Reaktion auf den Rationalismus. Der Sozialismus hat an der
alten Gentilverfassung mit ihrer kommunistischen Gleichheit sein be-
geisterndes Ideal gefunden, während das Geldwesen das Individuum
auf sich rückwärts konzentriert und ihm als Objekte der persönlichen
und Gemütshingabe einerseits nur die allerengsten individuellen Be-
ziehungen, wie Familie und Freundschaft, andrerseits nur den weitesten
Kreis, etwa des Vaterlandes oder der Menschheit überhaupt, übrig ge-
lassen hat — beides soziale Bildungen, die sich, wenn auch aus ver-
schiedenen Gründen, der objektiven Vereinigung zu isolierten Zwecken
völlig fremd gegenüberstellen. Hier wird nun eine der umfassendsten
und tiefgreifendsten soziologischen Normen wirksam. Zu den wenigen
Regeln nämlich, die man mit annähernder Allgemeinheit für die Form
der sozialen Entwicklung aufstellen kann, gehört wohl diese: daſs die
Erweiterung einer Gruppe Hand in Hand geht mit der Individuali-
sierung und Verselbständigung ihrer einzelnen Mitglieder. Die Evo-
lution der Gesellschaften pflegt mit einer relativ kleinen Gruppe zu
beginnen, welche ihre Elemente in strenger Bindung und Gleichartig-
keit hält, und zu einer relativ groſsen vorzuschreiten, die ihren Ele-
menten Freiheit, Fürsichsein, gegenseitige Differenzierung gewährt.
Die Geschichte der Familienformen wie die der Religionsgemeinden,
die Entwicklung der Wirtschaftsgenossenschaften wie die der politischen
Parteien zeigt allenthalben diesen Typus. Die Bedeutung des Geldes
für die Entwicklung der Individualität steht deshalb in engstem Zu-
sammenhange mit der, die es für die Vergröſserung der sozialen Gruppen
besitzt. Für diese letztere bedarf es hier keines ausführlichen Beweises
mehr: die Wechselwirkung zwischen der Geldwirtschaft und der Gröſse
des Wirtschaftskreises habe ich früher aufgezeigt. Je mehr Menschen
mit einander in Beziehung treten, desto abstrakter und allgemein-

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[355/0379] des Zweckverbandes verkörpert ist, aufheben und appelliert zugleich an alle innigen und enthusiastischen Gefühle für die Gruppe, die sich in dem Einzelnen erwecken lassen. Freilich ist der Sozialismus auf eine Rationalisierung des Lebens gerichtet, auf die Beherrschung seiner zufälligen und einzigartigen Elemente durch die Gesetzmäſsigkeiten und Berechnungen des Verstandes; allein zugleich ist er den dumpfen kommunistischen Instinkten wahlverwandt, die als Erbschaft längst ver- schollener Zeiten noch in den abgelegneren Winkeln der Seelen ruhen. In dieser Zweiheit von Motivierungen, deren psychische Standorte ein- ander polar entgegengesetzt sind, und die ihn einerseits als das äuſserste Entwicklungsprodukt der rationalistischen Geldwirtschaft, andrerseits als die Verkörperung des undifferenziertesten Instinktes und Gefühlslebens zeigen, liegt wohl die Eigenart seiner Anziehungskraft: er ist Rationa- lismus und Reaktion auf den Rationalismus. Der Sozialismus hat an der alten Gentilverfassung mit ihrer kommunistischen Gleichheit sein be- geisterndes Ideal gefunden, während das Geldwesen das Individuum auf sich rückwärts konzentriert und ihm als Objekte der persönlichen und Gemütshingabe einerseits nur die allerengsten individuellen Be- ziehungen, wie Familie und Freundschaft, andrerseits nur den weitesten Kreis, etwa des Vaterlandes oder der Menschheit überhaupt, übrig ge- lassen hat — beides soziale Bildungen, die sich, wenn auch aus ver- schiedenen Gründen, der objektiven Vereinigung zu isolierten Zwecken völlig fremd gegenüberstellen. Hier wird nun eine der umfassendsten und tiefgreifendsten soziologischen Normen wirksam. Zu den wenigen Regeln nämlich, die man mit annähernder Allgemeinheit für die Form der sozialen Entwicklung aufstellen kann, gehört wohl diese: daſs die Erweiterung einer Gruppe Hand in Hand geht mit der Individuali- sierung und Verselbständigung ihrer einzelnen Mitglieder. Die Evo- lution der Gesellschaften pflegt mit einer relativ kleinen Gruppe zu beginnen, welche ihre Elemente in strenger Bindung und Gleichartig- keit hält, und zu einer relativ groſsen vorzuschreiten, die ihren Ele- menten Freiheit, Fürsichsein, gegenseitige Differenzierung gewährt. Die Geschichte der Familienformen wie die der Religionsgemeinden, die Entwicklung der Wirtschaftsgenossenschaften wie die der politischen Parteien zeigt allenthalben diesen Typus. Die Bedeutung des Geldes für die Entwicklung der Individualität steht deshalb in engstem Zu- sammenhange mit der, die es für die Vergröſserung der sozialen Gruppen besitzt. Für diese letztere bedarf es hier keines ausführlichen Beweises mehr: die Wechselwirkung zwischen der Geldwirtschaft und der Gröſse des Wirtschaftskreises habe ich früher aufgezeigt. Je mehr Menschen mit einander in Beziehung treten, desto abstrakter und allgemein- 23*

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 355. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/379>, abgerufen am 15.05.2024.