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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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der es den verwirrenden Strom der Eindrücke in ein ruhiges Bett zu
lenken und aus seinen Schwankungen eine feste Gestalt zu gewinnen
meint, richtet sich auf die Substanz und auf das Absolute, denen
gegenüber alle Einzelvorgänge und Beziehungen auf eine vorläufige,
für das Erkennen zu überwindende Stufe herabgedrückt werden.

Die angeführten Beispiele ergeben, dass diese Bewegung wieder
rückläufig geworden ist. Nachdem fast alle Kulturepochen einzelne An-
sätze dazu gesehen haben, kann man es als eine Grundrichtung der
modernen Wissenschaft bezeichnen, dass sie die Erscheinungen nicht
mehr durch und als besondere Substanzen, sondern als Bewegungen
versteht, deren Träger gleichsam immer weiter und weiter ins Eigen-
schaftslose abrücken; dass sie die den Dingen anhängenden Qualitäten
als quantitative, also relative Bestimmungen auszudrücken sucht; dass
sie statt der absoluten Stabilität organischer, physischer, ethischer,
sozialer Formationen eine rastlose Entwicklung lehrt, in der jedes
Element eine begrenzte, nur durch das Verhältnis zu seinem Vorher
und Nachher festzulegende Stelle einnimmt; dass sie auf das an sich
seiende Wesen der Dinge verzichtet und sich mit der Feststellung der
Beziehungen begnügt, die sich zwischen den Dingen und unserem
Geiste, von dem Standpunkte dieses aus gesehen, ergeben. Dass die
scheinbare Ruhe der Erde nicht nur eine komplizierte Bewegung ist,
sondern dass ihre ganze Stellung im Weltall nur durch ein Wechsel-
verhältnis zu anderen Materienmassen besteht -- das ist ein sehr ein-
facher, aber sehr eingreifender Fall des Überganges von der Festigkeit
und Absolutheit der Weltinhalte zu ihrer Auflösung in Bewegungen
und Relationen.

Aber alles dies scheint, selbst wenn es vollkommen durchgeführt
wäre, dennoch einen festen Punkt, eine absolute Wahrheit zu ermög-
lichen, ja, zu fordern. Das Erkennen selbst nämlich, das jene Auf-
lösung vollzieht, scheint sich seinerseits dem Strome der ewigen Ent-
wicklung, der nur vergleichsweisen Bestimmtheit zu entziehen, in den
es seine einzelnen Inhalte verweist. Die Auflösung der absoluten Ob-
jektivität der Erkenntnisinhalte in Vorstellungsarten, die nur für das
menschliche Subjekt gültig seien, setzt doch irgendwo letzte Punkte
voraus, die nicht weiter herleitbar sind; der Fluss und die Relativität
der psychischen Prozesse dürfe doch diejenigen Voraussetzungen und
Normen nicht berühren, nach denen wir erst entscheiden, ob unsere Er-
kenntnisse denn wirklich diesen oder einen anderen Charakter tragen;
die bloss psychologische Herleitung, in die alle absolut objektiven Er-
kenntnisse aufgelöst werden sollen, bedarf doch bestimmter Axiome, die
nicht selbst wieder, ohne fehlerhaften Zirkel, eine bloss psychologische

der es den verwirrenden Strom der Eindrücke in ein ruhiges Bett zu
lenken und aus seinen Schwankungen eine feste Gestalt zu gewinnen
meint, richtet sich auf die Substanz und auf das Absolute, denen
gegenüber alle Einzelvorgänge und Beziehungen auf eine vorläufige,
für das Erkennen zu überwindende Stufe herabgedrückt werden.

Die angeführten Beispiele ergeben, daſs diese Bewegung wieder
rückläufig geworden ist. Nachdem fast alle Kulturepochen einzelne An-
sätze dazu gesehen haben, kann man es als eine Grundrichtung der
modernen Wissenschaft bezeichnen, daſs sie die Erscheinungen nicht
mehr durch und als besondere Substanzen, sondern als Bewegungen
versteht, deren Träger gleichsam immer weiter und weiter ins Eigen-
schaftslose abrücken; daſs sie die den Dingen anhängenden Qualitäten
als quantitative, also relative Bestimmungen auszudrücken sucht; daſs
sie statt der absoluten Stabilität organischer, physischer, ethischer,
sozialer Formationen eine rastlose Entwicklung lehrt, in der jedes
Element eine begrenzte, nur durch das Verhältnis zu seinem Vorher
und Nachher festzulegende Stelle einnimmt; daſs sie auf das an sich
seiende Wesen der Dinge verzichtet und sich mit der Feststellung der
Beziehungen begnügt, die sich zwischen den Dingen und unserem
Geiste, von dem Standpunkte dieses aus gesehen, ergeben. Daſs die
scheinbare Ruhe der Erde nicht nur eine komplizierte Bewegung ist,
sondern daſs ihre ganze Stellung im Weltall nur durch ein Wechsel-
verhältnis zu anderen Materienmassen besteht — das ist ein sehr ein-
facher, aber sehr eingreifender Fall des Überganges von der Festigkeit
und Absolutheit der Weltinhalte zu ihrer Auflösung in Bewegungen
und Relationen.

Aber alles dies scheint, selbst wenn es vollkommen durchgeführt
wäre, dennoch einen festen Punkt, eine absolute Wahrheit zu ermög-
lichen, ja, zu fordern. Das Erkennen selbst nämlich, das jene Auf-
lösung vollzieht, scheint sich seinerseits dem Strome der ewigen Ent-
wicklung, der nur vergleichsweisen Bestimmtheit zu entziehen, in den
es seine einzelnen Inhalte verweist. Die Auflösung der absoluten Ob-
jektivität der Erkenntnisinhalte in Vorstellungsarten, die nur für das
menschliche Subjekt gültig seien, setzt doch irgendwo letzte Punkte
voraus, die nicht weiter herleitbar sind; der Fluſs und die Relativität
der psychischen Prozesse dürfe doch diejenigen Voraussetzungen und
Normen nicht berühren, nach denen wir erst entscheiden, ob unsere Er-
kenntnisse denn wirklich diesen oder einen anderen Charakter tragen;
die bloſs psychologische Herleitung, in die alle absolut objektiven Er-
kenntnisse aufgelöst werden sollen, bedarf doch bestimmter Axiome, die
nicht selbst wieder, ohne fehlerhaften Zirkel, eine bloſs psychologische

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[60/0084] der es den verwirrenden Strom der Eindrücke in ein ruhiges Bett zu lenken und aus seinen Schwankungen eine feste Gestalt zu gewinnen meint, richtet sich auf die Substanz und auf das Absolute, denen gegenüber alle Einzelvorgänge und Beziehungen auf eine vorläufige, für das Erkennen zu überwindende Stufe herabgedrückt werden. Die angeführten Beispiele ergeben, daſs diese Bewegung wieder rückläufig geworden ist. Nachdem fast alle Kulturepochen einzelne An- sätze dazu gesehen haben, kann man es als eine Grundrichtung der modernen Wissenschaft bezeichnen, daſs sie die Erscheinungen nicht mehr durch und als besondere Substanzen, sondern als Bewegungen versteht, deren Träger gleichsam immer weiter und weiter ins Eigen- schaftslose abrücken; daſs sie die den Dingen anhängenden Qualitäten als quantitative, also relative Bestimmungen auszudrücken sucht; daſs sie statt der absoluten Stabilität organischer, physischer, ethischer, sozialer Formationen eine rastlose Entwicklung lehrt, in der jedes Element eine begrenzte, nur durch das Verhältnis zu seinem Vorher und Nachher festzulegende Stelle einnimmt; daſs sie auf das an sich seiende Wesen der Dinge verzichtet und sich mit der Feststellung der Beziehungen begnügt, die sich zwischen den Dingen und unserem Geiste, von dem Standpunkte dieses aus gesehen, ergeben. Daſs die scheinbare Ruhe der Erde nicht nur eine komplizierte Bewegung ist, sondern daſs ihre ganze Stellung im Weltall nur durch ein Wechsel- verhältnis zu anderen Materienmassen besteht — das ist ein sehr ein- facher, aber sehr eingreifender Fall des Überganges von der Festigkeit und Absolutheit der Weltinhalte zu ihrer Auflösung in Bewegungen und Relationen. Aber alles dies scheint, selbst wenn es vollkommen durchgeführt wäre, dennoch einen festen Punkt, eine absolute Wahrheit zu ermög- lichen, ja, zu fordern. Das Erkennen selbst nämlich, das jene Auf- lösung vollzieht, scheint sich seinerseits dem Strome der ewigen Ent- wicklung, der nur vergleichsweisen Bestimmtheit zu entziehen, in den es seine einzelnen Inhalte verweist. Die Auflösung der absoluten Ob- jektivität der Erkenntnisinhalte in Vorstellungsarten, die nur für das menschliche Subjekt gültig seien, setzt doch irgendwo letzte Punkte voraus, die nicht weiter herleitbar sind; der Fluſs und die Relativität der psychischen Prozesse dürfe doch diejenigen Voraussetzungen und Normen nicht berühren, nach denen wir erst entscheiden, ob unsere Er- kenntnisse denn wirklich diesen oder einen anderen Charakter tragen; die bloſs psychologische Herleitung, in die alle absolut objektiven Er- kenntnisse aufgelöst werden sollen, bedarf doch bestimmter Axiome, die nicht selbst wieder, ohne fehlerhaften Zirkel, eine bloſs psychologische

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/84>, abgerufen am 30.04.2024.