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Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 1. Berlin, 1861.

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weniger er sich im Stande fühlte, ausschweifende
Wünsche, chimärische Hoffnungen zu bekämpfen, die er
selbst im Stillen theilte, desto mehr verschwand die
Kluft zwischen Lehrer und Schüler -- desto brüder¬
licher wurde nur ihr Verhältniß. Noch hatte kein
menschliches Wesen einen so tiefen Eindruck auf Oswald
gemacht, als dieser wundersame Knabe. Er liebte ihn,
wie ein Künstler das Werk, an dem er schafft, wie ein
Vater den Sohn, in welchem er zu verwirklichen hofft,
was ihm selbst zu erreichen versagt war, wie eine
Mutter das Kind, für das sie wachen, sorgen und
schaffen muß. Allnächtlich, wenn er sich müde gelesen
und gearbeitet, ging er, ehe er selbst sein Lager suchte,
in das Gemach des Knaben -- er hätte nicht schlafen
können, ohne seinen Liebling noch einmal gesehen zu
haben. Jenes Schamgefühl, das edleren Naturen ver¬
bietet, die ganze Fülle ihrer Zärtlichkeit zu zeigen,
machte ihn den Tag über karg mit Liebkosungen; aber
jetzt nahm er des Schlafenden Hände, und streichelte
sie, und küßte den Knaben zärtlich auf die Stirn.

"Dich nennen sie lieblos. Dich, meinen Liebling,
dessen Herz nur nach Liebe und abermals nach Liebe
hungert. Und wenn sie alle Dich verkennen und hassen,
ich verstehe Dich und will Dich lieben."


weniger er ſich im Stande fühlte, ausſchweifende
Wünſche, chimäriſche Hoffnungen zu bekämpfen, die er
ſelbſt im Stillen theilte, deſto mehr verſchwand die
Kluft zwiſchen Lehrer und Schüler — deſto brüder¬
licher wurde nur ihr Verhältniß. Noch hatte kein
menſchliches Weſen einen ſo tiefen Eindruck auf Oswald
gemacht, als dieſer wunderſame Knabe. Er liebte ihn,
wie ein Künſtler das Werk, an dem er ſchafft, wie ein
Vater den Sohn, in welchem er zu verwirklichen hofft,
was ihm ſelbſt zu erreichen verſagt war, wie eine
Mutter das Kind, für das ſie wachen, ſorgen und
ſchaffen muß. Allnächtlich, wenn er ſich müde geleſen
und gearbeitet, ging er, ehe er ſelbſt ſein Lager ſuchte,
in das Gemach des Knaben — er hätte nicht ſchlafen
können, ohne ſeinen Liebling noch einmal geſehen zu
haben. Jenes Schamgefühl, das edleren Naturen ver¬
bietet, die ganze Fülle ihrer Zärtlichkeit zu zeigen,
machte ihn den Tag über karg mit Liebkoſungen; aber
jetzt nahm er des Schlafenden Hände, und ſtreichelte
ſie, und küßte den Knaben zärtlich auf die Stirn.

„Dich nennen ſie lieblos. Dich, meinen Liebling,
deſſen Herz nur nach Liebe und abermals nach Liebe
hungert. Und wenn ſie alle Dich verkennen und haſſen,
ich verſtehe Dich und will Dich lieben.“


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[45/0055] weniger er ſich im Stande fühlte, ausſchweifende Wünſche, chimäriſche Hoffnungen zu bekämpfen, die er ſelbſt im Stillen theilte, deſto mehr verſchwand die Kluft zwiſchen Lehrer und Schüler — deſto brüder¬ licher wurde nur ihr Verhältniß. Noch hatte kein menſchliches Weſen einen ſo tiefen Eindruck auf Oswald gemacht, als dieſer wunderſame Knabe. Er liebte ihn, wie ein Künſtler das Werk, an dem er ſchafft, wie ein Vater den Sohn, in welchem er zu verwirklichen hofft, was ihm ſelbſt zu erreichen verſagt war, wie eine Mutter das Kind, für das ſie wachen, ſorgen und ſchaffen muß. Allnächtlich, wenn er ſich müde geleſen und gearbeitet, ging er, ehe er ſelbſt ſein Lager ſuchte, in das Gemach des Knaben — er hätte nicht ſchlafen können, ohne ſeinen Liebling noch einmal geſehen zu haben. Jenes Schamgefühl, das edleren Naturen ver¬ bietet, die ganze Fülle ihrer Zärtlichkeit zu zeigen, machte ihn den Tag über karg mit Liebkoſungen; aber jetzt nahm er des Schlafenden Hände, und ſtreichelte ſie, und küßte den Knaben zärtlich auf die Stirn. „Dich nennen ſie lieblos. Dich, meinen Liebling, deſſen Herz nur nach Liebe und abermals nach Liebe hungert. Und wenn ſie alle Dich verkennen und haſſen, ich verſtehe Dich und will Dich lieben.“

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Zitationshilfe: Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 1. Berlin, 1861, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische01_1861/55>, abgerufen am 26.04.2024.