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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866.

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Einwanderung erst durch den Erwerb des Heimathsrechts
in einer Gemeinde vollendet ist. Dieser Erwerb aber enthält eben die
Entscheidung der Gemeinde darüber, ob der Niedergelassene die Be-
dingungen der volkswirthschaftlichen Existenz wirklich besitzt, und diese
erst macht aus der Niederlassung das Heimathsrecht. Und auf diese
Weise erscheint in unserer Epoche das Recht der Einwanderung
als identisch mit dem Erwerbe des Heimathsrechts in der
Gemeinde
. Der populationistische Charakter der früheren Zeit ist da-
mit gänzlich verschwunden; es gibt überhaupt kein besonderes Einwan-
derungswesen mehr; die Einwanderung bildet nicht mehr Gegenstand
der Verwaltung; die Lehre von der Einwanderung führt in der Theorie
der Verwaltung nur noch ein Scheinleben fort, da die Einwanderung
keine Aufgabe der Verwaltung für den ganzen Staat mehr bildet; nur
die Selbstverwaltung der Gemeinde hat über jeden einzelnen Fall zu
entscheiden, und eben darum gibt es auch keine allgemeine Regel mehr,
ob sie gut oder schlecht ist.

Die Grundsätze aber, nach welchen diese Gemeindeangehörigkeit
erworben wird, werden wir in all ihrer gegenwärtigen Verwirrung in
Deutschland unten darlegen.

Das nun ist das Resultat, bei welchem die Verwaltungslehre in
Bezug auf die Einwanderung anlangt. Es liegt dasselbe offenbar im
natürlichen Gange der Dinge und ist im Grunde doch nichts anderes,
als das self supporting-principle Wakefield's (siehe unten) in seiner
Anwendung auch auf den Begriff und das Recht der Niederlassung des
Einzelnen, an die Wakefield selbst nicht dachte, und die auch Roscher
vollkommen übersehen hat. Faßt man dieß zusammen, so wird man
nunmehr auch die schon früher gerügte Unbehülflichkeit der Theorie sich
leicht erklären, die noch immer von der Einwanderung als einer Ver-
waltungsmaßregel reden und sie beurtheilen will, obgleich es in unserer
Zeit weder eine solche gibt noch geben kann. Im Gegentheil sind alle
Fragen nach dem Recht und den volkswirthschaftlichen Bedingungen
und Folgen der Einwanderungen damit definitiv ins Heimathswesen
gewiesen, auf das wir unten zurückkommen.

Die Literatur hat gerade für die Einwanderung und ihr Recht viel weniger
Inhalt und Bedeutung, als man glauben sollte, und eben so ist mit der neuen
Ordnung der Dinge auch die Gesetzgebung als eine selbständige nicht vorhanden.
Der Grund davon besteht wesentlich darin, daß man die Einwanderung nament-
lich in neuerer Zeit von der Auswanderung nicht klar genug scheidet, und noch
weniger -- was in der That zu verwundern ist -- dieselbe in ihr gehöriges
Verhältniß zu dem Recht der Freizügigkeit und dem Heimathswesen zu bringen
verstanden hat. Statt dessen hat sich die Publicistik wesentlich um den Begriff

Einwanderung erſt durch den Erwerb des Heimathsrechts
in einer Gemeinde vollendet iſt. Dieſer Erwerb aber enthält eben die
Entſcheidung der Gemeinde darüber, ob der Niedergelaſſene die Be-
dingungen der volkswirthſchaftlichen Exiſtenz wirklich beſitzt, und dieſe
erſt macht aus der Niederlaſſung das Heimathsrecht. Und auf dieſe
Weiſe erſcheint in unſerer Epoche das Recht der Einwanderung
als identiſch mit dem Erwerbe des Heimathsrechts in der
Gemeinde
. Der populationiſtiſche Charakter der früheren Zeit iſt da-
mit gänzlich verſchwunden; es gibt überhaupt kein beſonderes Einwan-
derungsweſen mehr; die Einwanderung bildet nicht mehr Gegenſtand
der Verwaltung; die Lehre von der Einwanderung führt in der Theorie
der Verwaltung nur noch ein Scheinleben fort, da die Einwanderung
keine Aufgabe der Verwaltung für den ganzen Staat mehr bildet; nur
die Selbſtverwaltung der Gemeinde hat über jeden einzelnen Fall zu
entſcheiden, und eben darum gibt es auch keine allgemeine Regel mehr,
ob ſie gut oder ſchlecht iſt.

Die Grundſätze aber, nach welchen dieſe Gemeindeangehörigkeit
erworben wird, werden wir in all ihrer gegenwärtigen Verwirrung in
Deutſchland unten darlegen.

Das nun iſt das Reſultat, bei welchem die Verwaltungslehre in
Bezug auf die Einwanderung anlangt. Es liegt daſſelbe offenbar im
natürlichen Gange der Dinge und iſt im Grunde doch nichts anderes,
als das self supporting-principle Wakefield’s (ſiehe unten) in ſeiner
Anwendung auch auf den Begriff und das Recht der Niederlaſſung des
Einzelnen, an die Wakefield ſelbſt nicht dachte, und die auch Roſcher
vollkommen überſehen hat. Faßt man dieß zuſammen, ſo wird man
nunmehr auch die ſchon früher gerügte Unbehülflichkeit der Theorie ſich
leicht erklären, die noch immer von der Einwanderung als einer Ver-
waltungsmaßregel reden und ſie beurtheilen will, obgleich es in unſerer
Zeit weder eine ſolche gibt noch geben kann. Im Gegentheil ſind alle
Fragen nach dem Recht und den volkswirthſchaftlichen Bedingungen
und Folgen der Einwanderungen damit definitiv ins Heimathsweſen
gewieſen, auf das wir unten zurückkommen.

Die Literatur hat gerade für die Einwanderung und ihr Recht viel weniger
Inhalt und Bedeutung, als man glauben ſollte, und eben ſo iſt mit der neuen
Ordnung der Dinge auch die Geſetzgebung als eine ſelbſtändige nicht vorhanden.
Der Grund davon beſteht weſentlich darin, daß man die Einwanderung nament-
lich in neuerer Zeit von der Auswanderung nicht klar genug ſcheidet, und noch
weniger — was in der That zu verwundern iſt — dieſelbe in ihr gehöriges
Verhältniß zu dem Recht der Freizügigkeit und dem Heimathsweſen zu bringen
verſtanden hat. Statt deſſen hat ſich die Publiciſtik weſentlich um den Begriff

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[178/0200] Einwanderung erſt durch den Erwerb des Heimathsrechts in einer Gemeinde vollendet iſt. Dieſer Erwerb aber enthält eben die Entſcheidung der Gemeinde darüber, ob der Niedergelaſſene die Be- dingungen der volkswirthſchaftlichen Exiſtenz wirklich beſitzt, und dieſe erſt macht aus der Niederlaſſung das Heimathsrecht. Und auf dieſe Weiſe erſcheint in unſerer Epoche das Recht der Einwanderung als identiſch mit dem Erwerbe des Heimathsrechts in der Gemeinde. Der populationiſtiſche Charakter der früheren Zeit iſt da- mit gänzlich verſchwunden; es gibt überhaupt kein beſonderes Einwan- derungsweſen mehr; die Einwanderung bildet nicht mehr Gegenſtand der Verwaltung; die Lehre von der Einwanderung führt in der Theorie der Verwaltung nur noch ein Scheinleben fort, da die Einwanderung keine Aufgabe der Verwaltung für den ganzen Staat mehr bildet; nur die Selbſtverwaltung der Gemeinde hat über jeden einzelnen Fall zu entſcheiden, und eben darum gibt es auch keine allgemeine Regel mehr, ob ſie gut oder ſchlecht iſt. Die Grundſätze aber, nach welchen dieſe Gemeindeangehörigkeit erworben wird, werden wir in all ihrer gegenwärtigen Verwirrung in Deutſchland unten darlegen. Das nun iſt das Reſultat, bei welchem die Verwaltungslehre in Bezug auf die Einwanderung anlangt. Es liegt daſſelbe offenbar im natürlichen Gange der Dinge und iſt im Grunde doch nichts anderes, als das self supporting-principle Wakefield’s (ſiehe unten) in ſeiner Anwendung auch auf den Begriff und das Recht der Niederlaſſung des Einzelnen, an die Wakefield ſelbſt nicht dachte, und die auch Roſcher vollkommen überſehen hat. Faßt man dieß zuſammen, ſo wird man nunmehr auch die ſchon früher gerügte Unbehülflichkeit der Theorie ſich leicht erklären, die noch immer von der Einwanderung als einer Ver- waltungsmaßregel reden und ſie beurtheilen will, obgleich es in unſerer Zeit weder eine ſolche gibt noch geben kann. Im Gegentheil ſind alle Fragen nach dem Recht und den volkswirthſchaftlichen Bedingungen und Folgen der Einwanderungen damit definitiv ins Heimathsweſen gewieſen, auf das wir unten zurückkommen. Die Literatur hat gerade für die Einwanderung und ihr Recht viel weniger Inhalt und Bedeutung, als man glauben ſollte, und eben ſo iſt mit der neuen Ordnung der Dinge auch die Geſetzgebung als eine ſelbſtändige nicht vorhanden. Der Grund davon beſteht weſentlich darin, daß man die Einwanderung nament- lich in neuerer Zeit von der Auswanderung nicht klar genug ſcheidet, und noch weniger — was in der That zu verwundern iſt — dieſelbe in ihr gehöriges Verhältniß zu dem Recht der Freizügigkeit und dem Heimathsweſen zu bringen verſtanden hat. Statt deſſen hat ſich die Publiciſtik weſentlich um den Begriff

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/200>, abgerufen am 28.04.2024.