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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868.

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von den Slaven eroberten Theilen Norddeutschlands, in denen die Leib-
eigenschaft viel allgemeiner und härter war als im alten eigentlichen
Deutschland, und dem letztern erkannten. (Vgl. Fischer I, 1084--89,
der übrigens ungenau hier Nord- und Süddeutschland einander zu all-
gemein entgegensetzt.) Die spätere Rechtsgeschichte hat diesen hochwichtigen
Unterschied, auf dem namentlich der gegenwärtige, noch sehr unfreie Zu-
stand der ostpreußischen Agrarverfassung
beruht, ganz übersehen;
Eichhorn hat überhaupt die Unterschiede der deutschen Stämme grundsätz-
lich in den Hintergrund treten lassen; daß aber der sonst so geistvolle und
gründliche Sugenheim darauf keine Rücksicht genommen, ist ein Mangel
seines vortrefflichen Werkes. Aus diesen leitenden Principien folgert nun
die deutsche Rechtswissenschaft am Ende des vorigen Jahrhunderts den sehr
ernsten Satz, daß "bei Beurtheilung jener rechtlichen Verhältnisse (der
Bauern) überhaupt nicht mehr auf die alte Verfassung, sondern
allein auf die gegenwärtigen Umstände Rücksicht zu nehmen
sei
" -- und daß "der Bauer so gut wie jeder andere Unterthan bei
dem Grade von Freiheit und Eigenthum geschützt werden müsse, zu
dessen Besitz er wirklich gelangt ist." "In allen Fällen," sagt Runde,
als Hauptvertreter dieses Standpunkts, "muß man zunächst den Besitz-
stand und die Localverfassung vor Augen behalten, alsdann aber die
Entscheidungsgründe aus den Bauernrechten hernehmen" -- ein Satz,
den bereits Ludolf in seiner Abhandlung de juris coloniarii in Ger-
mania diversitate ejusque adminiculis generatim (Observ. for. II.
obs. 148)
und namentlich Struben (de jure Villicorum c. 2 und in
seinen Rechtlichen Bedenken III. 435) als leitenden und ziemlich all-
gemein anerkannten Grundsatz ausgesprochen hatten. Die Bedeutung
dieser Auffassung lag nun darin, daß die grundherrlichen Rechte dadurch
auch für die Rechtswissenschaft definitiv den Charakter von Privat-
rechten
angenommen hatten, also als unverletzlich und nicht mehr
als von der "Verfassung" d. h. dem öffentlichen Recht der Staaten ab-
hängig anerkannt wurden. Den Schlußpunkt dieser Theorie bildet das
Recht auf die Patrimonialgerichtsbarkeit. Sie ist für dieselbe gleichfalls
ein "zum Patrimonio gehöriges veräußerliches Recht," und "die Haupt-
quelle dieser Gerichtsbarkeit ist vielmehr das Eigenthum an der
Person
, und das Obereigenthum an dem ihr verliehenen Gute."
Sie ist daher selbst ein Privateigenthum; sie hat ihren Charakter als
öffentliches Recht gänzlich verloren, und selbst bei so freisinnigen und
tüchtigen Männern wie Runde, ergibt sich der Schlußsatz, der zugleich das
Ende des vorigen und den Anfang des gegenwärtigen Jahrhunderts
bedeutet. "Wenn man, dem an sich richtigen Grundsatze des allge-
meinen Staatsrechts zu Folge, auch nach deutscher Verfassung alle

von den Slaven eroberten Theilen Norddeutſchlands, in denen die Leib-
eigenſchaft viel allgemeiner und härter war als im alten eigentlichen
Deutſchland, und dem letztern erkannten. (Vgl. Fiſcher I, 1084—89,
der übrigens ungenau hier Nord- und Süddeutſchland einander zu all-
gemein entgegenſetzt.) Die ſpätere Rechtsgeſchichte hat dieſen hochwichtigen
Unterſchied, auf dem namentlich der gegenwärtige, noch ſehr unfreie Zu-
ſtand der oſtpreußiſchen Agrarverfaſſung
beruht, ganz überſehen;
Eichhorn hat überhaupt die Unterſchiede der deutſchen Stämme grundſätz-
lich in den Hintergrund treten laſſen; daß aber der ſonſt ſo geiſtvolle und
gründliche Sugenheim darauf keine Rückſicht genommen, iſt ein Mangel
ſeines vortrefflichen Werkes. Aus dieſen leitenden Principien folgert nun
die deutſche Rechtswiſſenſchaft am Ende des vorigen Jahrhunderts den ſehr
ernſten Satz, daß „bei Beurtheilung jener rechtlichen Verhältniſſe (der
Bauern) überhaupt nicht mehr auf die alte Verfaſſung, ſondern
allein auf die gegenwärtigen Umſtände Rückſicht zu nehmen
ſei
“ — und daß „der Bauer ſo gut wie jeder andere Unterthan bei
dem Grade von Freiheit und Eigenthum geſchützt werden müſſe, zu
deſſen Beſitz er wirklich gelangt iſt.“ „In allen Fällen,“ ſagt Runde,
als Hauptvertreter dieſes Standpunkts, „muß man zunächſt den Beſitz-
ſtand und die Localverfaſſung vor Augen behalten, alsdann aber die
Entſcheidungsgründe aus den Bauernrechten hernehmen“ — ein Satz,
den bereits Ludolf in ſeiner Abhandlung de juris coloniarii in Ger-
mania diversitate ejusque adminiculis generatim (Observ. for. II.
obs. 148)
und namentlich Struben (de jure Villicorum c. 2 und in
ſeinen Rechtlichen Bedenken III. 435) als leitenden und ziemlich all-
gemein anerkannten Grundſatz ausgeſprochen hatten. Die Bedeutung
dieſer Auffaſſung lag nun darin, daß die grundherrlichen Rechte dadurch
auch für die Rechtswiſſenſchaft definitiv den Charakter von Privat-
rechten
angenommen hatten, alſo als unverletzlich und nicht mehr
als von der „Verfaſſung“ d. h. dem öffentlichen Recht der Staaten ab-
hängig anerkannt wurden. Den Schlußpunkt dieſer Theorie bildet das
Recht auf die Patrimonialgerichtsbarkeit. Sie iſt für dieſelbe gleichfalls
ein „zum Patrimonio gehöriges veräußerliches Recht,“ und „die Haupt-
quelle dieſer Gerichtsbarkeit iſt vielmehr das Eigenthum an der
Perſon
, und das Obereigenthum an dem ihr verliehenen Gute.“
Sie iſt daher ſelbſt ein Privateigenthum; ſie hat ihren Charakter als
öffentliches Recht gänzlich verloren, und ſelbſt bei ſo freiſinnigen und
tüchtigen Männern wie Runde, ergibt ſich der Schlußſatz, der zugleich das
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meinen Staatsrechts zu Folge, auch nach deutſcher Verfaſſung alle

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[163/0181] von den Slaven eroberten Theilen Norddeutſchlands, in denen die Leib- eigenſchaft viel allgemeiner und härter war als im alten eigentlichen Deutſchland, und dem letztern erkannten. (Vgl. Fiſcher I, 1084—89, der übrigens ungenau hier Nord- und Süddeutſchland einander zu all- gemein entgegenſetzt.) Die ſpätere Rechtsgeſchichte hat dieſen hochwichtigen Unterſchied, auf dem namentlich der gegenwärtige, noch ſehr unfreie Zu- ſtand der oſtpreußiſchen Agrarverfaſſung beruht, ganz überſehen; Eichhorn hat überhaupt die Unterſchiede der deutſchen Stämme grundſätz- lich in den Hintergrund treten laſſen; daß aber der ſonſt ſo geiſtvolle und gründliche Sugenheim darauf keine Rückſicht genommen, iſt ein Mangel ſeines vortrefflichen Werkes. Aus dieſen leitenden Principien folgert nun die deutſche Rechtswiſſenſchaft am Ende des vorigen Jahrhunderts den ſehr ernſten Satz, daß „bei Beurtheilung jener rechtlichen Verhältniſſe (der Bauern) überhaupt nicht mehr auf die alte Verfaſſung, ſondern allein auf die gegenwärtigen Umſtände Rückſicht zu nehmen ſei“ — und daß „der Bauer ſo gut wie jeder andere Unterthan bei dem Grade von Freiheit und Eigenthum geſchützt werden müſſe, zu deſſen Beſitz er wirklich gelangt iſt.“ „In allen Fällen,“ ſagt Runde, als Hauptvertreter dieſes Standpunkts, „muß man zunächſt den Beſitz- ſtand und die Localverfaſſung vor Augen behalten, alsdann aber die Entſcheidungsgründe aus den Bauernrechten hernehmen“ — ein Satz, den bereits Ludolf in ſeiner Abhandlung de juris coloniarii in Ger- mania diversitate ejusque adminiculis generatim (Observ. for. II. obs. 148) und namentlich Struben (de jure Villicorum c. 2 und in ſeinen Rechtlichen Bedenken III. 435) als leitenden und ziemlich all- gemein anerkannten Grundſatz ausgeſprochen hatten. Die Bedeutung dieſer Auffaſſung lag nun darin, daß die grundherrlichen Rechte dadurch auch für die Rechtswiſſenſchaft definitiv den Charakter von Privat- rechten angenommen hatten, alſo als unverletzlich und nicht mehr als von der „Verfaſſung“ d. h. dem öffentlichen Recht der Staaten ab- hängig anerkannt wurden. Den Schlußpunkt dieſer Theorie bildet das Recht auf die Patrimonialgerichtsbarkeit. Sie iſt für dieſelbe gleichfalls ein „zum Patrimonio gehöriges veräußerliches Recht,“ und „die Haupt- quelle dieſer Gerichtsbarkeit iſt vielmehr das Eigenthum an der Perſon, und das Obereigenthum an dem ihr verliehenen Gute.“ Sie iſt daher ſelbſt ein Privateigenthum; ſie hat ihren Charakter als öffentliches Recht gänzlich verloren, und ſelbſt bei ſo freiſinnigen und tüchtigen Männern wie Runde, ergibt ſich der Schlußſatz, der zugleich das Ende des vorigen und den Anfang des gegenwärtigen Jahrhunderts bedeutet. „Wenn man, dem an ſich richtigen Grundſatze des allge- meinen Staatsrechts zu Folge, auch nach deutſcher Verfaſſung alle

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre07_1868/181>, abgerufen am 27.04.2024.