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Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 3. Pesth, 1857.

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zweige. Sie gab mir ein grünes Rosenblatt, ich knickte
einen zarten Zweig, was eigentlich nicht erlaubt war,
und gab ihr den Zweig. Sie wendete sich einen Au¬
genblick ab, und da sie sich wieder uns zugewandt,
hatte sie den Rosenzweig bei sich verborgen. Wir gin¬
gen in das Gartenhaus, sie stand an dem Tische, und
stüzte sich mit ihrer Hand auf die Platte desselben.
Ich legte meine Hand auch auf die Platte, und nach
einigen Augenblicken hatten sich unsere Finger berührt.
Sie stand wie eine feurige Flamme da, und mein gan¬
zes Wesen zitterte. Im vorigen Sommer hatte ich ihr
oft die Hand gereicht, um ihr über eine schwierige
Stelle zu helfen, um sie auf einem schwanken Stege
zu stüzen, oder sie auf schmalem Pfade zu geleiten.
Jezt fürchteten wir, uns die Hände zu geben, und
die Berührung war von der größten Wirkung. Es
ist nicht zu sagen, woher es kommt, daß vor einem
Herzen die Erde der Himmel die Sterne die Sonne
das ganze Weltall verschwindet, und vor dem Herzen
eines Wesens, das nur ein Mädchen ist, und das
andere noch ein Kind heißen. Aber sie war wie der
Stengel einer himmlischen Lilie zaubervoll anmuths¬
voll unbegreiflich."

"Wir gingen wieder in das Haus, und wir gin¬

zweige. Sie gab mir ein grünes Roſenblatt, ich knickte
einen zarten Zweig, was eigentlich nicht erlaubt war,
und gab ihr den Zweig. Sie wendete ſich einen Au¬
genblick ab, und da ſie ſich wieder uns zugewandt,
hatte ſie den Roſenzweig bei ſich verborgen. Wir gin¬
gen in das Gartenhaus, ſie ſtand an dem Tiſche, und
ſtüzte ſich mit ihrer Hand auf die Platte desſelben.
Ich legte meine Hand auch auf die Platte, und nach
einigen Augenblicken hatten ſich unſere Finger berührt.
Sie ſtand wie eine feurige Flamme da, und mein gan¬
zes Weſen zitterte. Im vorigen Sommer hatte ich ihr
oft die Hand gereicht, um ihr über eine ſchwierige
Stelle zu helfen, um ſie auf einem ſchwanken Stege
zu ſtüzen, oder ſie auf ſchmalem Pfade zu geleiten.
Jezt fürchteten wir, uns die Hände zu geben, und
die Berührung war von der größten Wirkung. Es
iſt nicht zu ſagen, woher es kommt, daß vor einem
Herzen die Erde der Himmel die Sterne die Sonne
das ganze Weltall verſchwindet, und vor dem Herzen
eines Weſens, das nur ein Mädchen iſt, und das
andere noch ein Kind heißen. Aber ſie war wie der
Stengel einer himmliſchen Lilie zaubervoll anmuths¬
voll unbegreiflich.“

„Wir gingen wieder in das Haus, und wir gin¬

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[295/0309] zweige. Sie gab mir ein grünes Roſenblatt, ich knickte einen zarten Zweig, was eigentlich nicht erlaubt war, und gab ihr den Zweig. Sie wendete ſich einen Au¬ genblick ab, und da ſie ſich wieder uns zugewandt, hatte ſie den Roſenzweig bei ſich verborgen. Wir gin¬ gen in das Gartenhaus, ſie ſtand an dem Tiſche, und ſtüzte ſich mit ihrer Hand auf die Platte desſelben. Ich legte meine Hand auch auf die Platte, und nach einigen Augenblicken hatten ſich unſere Finger berührt. Sie ſtand wie eine feurige Flamme da, und mein gan¬ zes Weſen zitterte. Im vorigen Sommer hatte ich ihr oft die Hand gereicht, um ihr über eine ſchwierige Stelle zu helfen, um ſie auf einem ſchwanken Stege zu ſtüzen, oder ſie auf ſchmalem Pfade zu geleiten. Jezt fürchteten wir, uns die Hände zu geben, und die Berührung war von der größten Wirkung. Es iſt nicht zu ſagen, woher es kommt, daß vor einem Herzen die Erde der Himmel die Sterne die Sonne das ganze Weltall verſchwindet, und vor dem Herzen eines Weſens, das nur ein Mädchen iſt, und das andere noch ein Kind heißen. Aber ſie war wie der Stengel einer himmliſchen Lilie zaubervoll anmuths¬ voll unbegreiflich.“ „Wir gingen wieder in das Haus, und wir gin¬

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Zitationshilfe: Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 3. Pesth, 1857, S. 295. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer03_1857/309>, abgerufen am 29.04.2024.