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Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 3. Pesth, 1857.

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allen Zeiten. Gehe nur den Weg deines Herzens wie
bisher, und alles wird sich wohl gestalten."

Ich reichte ihm die Hand, er zog mich an sich,
und küßte mich auf den Mund.

Natalie war indessen in den Armen meiner Mut¬
ter meines Vaters und Klotildens gewesen.

"Er wird gewiß bleiben, wie er heute ist," sagte
sie, wahrscheinlich auf einen Wunsch für die Zukunft
antwortend.

"Nein, mein theures Kind," sagte meine Mutter,
"er wird nicht so bleiben, das weißt du jezt noch nicht:
er wird mehr werden, und du wirst mehr werden. Die
Liebe wird eine andere, in vielen Jahren ist sie eine
ganz andere; aber in jedem Jahre ist sie eine größere,
und wenn du sagst, jezt lieben wir uns am meisten,
so ist es in Kurzem nicht mehr wahr, und wenn du
statt des blühenden Jünglings einst einen welken
Greis vor dir hast, so liebst du ihn anders, als du den
Jüngling geliebt hast; aber du liebst ihn unsäglich
mehr, du liebst ihn treuer, ernster und unzerrei߬
barer."

Mein Vater wandte sich ab, und fuhr sich mit der
Hand über die Augen.

allen Zeiten. Gehe nur den Weg deines Herzens wie
bisher, und alles wird ſich wohl geſtalten.“

Ich reichte ihm die Hand, er zog mich an ſich,
und küßte mich auf den Mund.

Natalie war indeſſen in den Armen meiner Mut¬
ter meines Vaters und Klotildens geweſen.

„Er wird gewiß bleiben, wie er heute iſt,“ ſagte
ſie, wahrſcheinlich auf einen Wunſch für die Zukunft
antwortend.

„Nein, mein theures Kind,“ ſagte meine Mutter,
„er wird nicht ſo bleiben, das weißt du jezt noch nicht:
er wird mehr werden, und du wirſt mehr werden. Die
Liebe wird eine andere, in vielen Jahren iſt ſie eine
ganz andere; aber in jedem Jahre iſt ſie eine größere,
und wenn du ſagſt, jezt lieben wir uns am meiſten,
ſo iſt es in Kurzem nicht mehr wahr, und wenn du
ſtatt des blühenden Jünglings einſt einen welken
Greis vor dir haſt, ſo liebſt du ihn anders, als du den
Jüngling geliebt haſt; aber du liebſt ihn unſäglich
mehr, du liebſt ihn treuer, ernſter und unzerrei߬
barer.“

Mein Vater wandte ſich ab, und fuhr ſich mit der
Hand über die Augen.

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[414/0428] allen Zeiten. Gehe nur den Weg deines Herzens wie bisher, und alles wird ſich wohl geſtalten.“ Ich reichte ihm die Hand, er zog mich an ſich, und küßte mich auf den Mund. Natalie war indeſſen in den Armen meiner Mut¬ ter meines Vaters und Klotildens geweſen. „Er wird gewiß bleiben, wie er heute iſt,“ ſagte ſie, wahrſcheinlich auf einen Wunſch für die Zukunft antwortend. „Nein, mein theures Kind,“ ſagte meine Mutter, „er wird nicht ſo bleiben, das weißt du jezt noch nicht: er wird mehr werden, und du wirſt mehr werden. Die Liebe wird eine andere, in vielen Jahren iſt ſie eine ganz andere; aber in jedem Jahre iſt ſie eine größere, und wenn du ſagſt, jezt lieben wir uns am meiſten, ſo iſt es in Kurzem nicht mehr wahr, und wenn du ſtatt des blühenden Jünglings einſt einen welken Greis vor dir haſt, ſo liebſt du ihn anders, als du den Jüngling geliebt haſt; aber du liebſt ihn unſäglich mehr, du liebſt ihn treuer, ernſter und unzerrei߬ barer.“ Mein Vater wandte ſich ab, und fuhr ſich mit der Hand über die Augen.

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Zitationshilfe: Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 3. Pesth, 1857, S. 414. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer03_1857/428>, abgerufen am 14.05.2024.