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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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oder als das "Ziel der Geschichte"; er ist ihm nicht Ge¬
genwart.

Nur Theil haben kann der Einzelne an der Stiftung des
Gottesreiches oder, nach moderner Vorstellung von derselben
Sache, an der Entwicklung und Geschichte der Menschheit,
und nur soweit er daran Theil hat, kommt ihm ein christlicher
oder, nach modernem Ausdruck, menschlicher Werth zu, im
Uebrigen ist er Staub und ein Madensack.

Daß der Einzelne für sich eine Weltgeschichte ist und an
der übrigen Weltgeschichte sein Eigenthum besitzt, das geht
über's Christliche hinaus. Dem Christen ist die Weltgeschichte
das Höhere, weil sie die Geschichte Christi oder "des Men¬
schen" ist; dem Egoisten hat nur seine Geschichte Werth,
weil er nur sich entwickeln will, nicht die Menschheits-Idee,
nicht den Plan Gottes, nicht die Absichten der Vorsehung,
nicht die Freiheit u. dgl. Er sieht sich nicht für ein Werkzeug
der Idee oder ein Gefäß Gottes an, er erkennt keinen Beruf
an, er wähnt nicht, zur Fortentwicklung der Menschheit dazu¬
sein und sein Scherflein dazu beitragen zu müssen, sondern er
lebt sich aus, unbesorgt darum, wie gut oder schlecht die
Menschheit dabei fahre. Ließe es nicht das Mißverständniß
zu, als sollte ein Naturzustand gepriesen werden, so könnte
man an Lenau's "Drei Zigeuner" erinnern. -- Was, bin Ich
dazu in der Welt, um Ideen zu realisiren? Um etwa zur
Verwirklichung der Idee "Staat" durch mein Bürgerthum das
Meinige zu thun, oder durch die Ehe, als Ehegatte und Vater,
die Idee der Familie zu einem Dasein zu bringen? Was
ficht Mich ein solcher Beruf an! Ich lebe so wenig nach
einem Berufe, als die Blume nach einem Berufe wächst und
duftet.

oder als das „Ziel der Geſchichte“; er iſt ihm nicht Ge¬
genwart.

Nur Theil haben kann der Einzelne an der Stiftung des
Gottesreiches oder, nach moderner Vorſtellung von derſelben
Sache, an der Entwicklung und Geſchichte der Menſchheit,
und nur ſoweit er daran Theil hat, kommt ihm ein chriſtlicher
oder, nach modernem Ausdruck, menſchlicher Werth zu, im
Uebrigen iſt er Staub und ein Madenſack.

Daß der Einzelne für ſich eine Weltgeſchichte iſt und an
der übrigen Weltgeſchichte ſein Eigenthum beſitzt, das geht
über's Chriſtliche hinaus. Dem Chriſten iſt die Weltgeſchichte
das Höhere, weil ſie die Geſchichte Chriſti oder „des Men¬
ſchen“ iſt; dem Egoiſten hat nur ſeine Geſchichte Werth,
weil er nur ſich entwickeln will, nicht die Menſchheits-Idee,
nicht den Plan Gottes, nicht die Abſichten der Vorſehung,
nicht die Freiheit u. dgl. Er ſieht ſich nicht für ein Werkzeug
der Idee oder ein Gefäß Gottes an, er erkennt keinen Beruf
an, er wähnt nicht, zur Fortentwicklung der Menſchheit dazu¬
ſein und ſein Scherflein dazu beitragen zu müſſen, ſondern er
lebt ſich aus, unbeſorgt darum, wie gut oder ſchlecht die
Menſchheit dabei fahre. Ließe es nicht das Mißverſtändniß
zu, als ſollte ein Naturzuſtand geprieſen werden, ſo könnte
man an Lenau's „Drei Zigeuner“ erinnern. — Was, bin Ich
dazu in der Welt, um Ideen zu realiſiren? Um etwa zur
Verwirklichung der Idee „Staat“ durch mein Bürgerthum das
Meinige zu thun, oder durch die Ehe, als Ehegatte und Vater,
die Idee der Familie zu einem Daſein zu bringen? Was
ficht Mich ein ſolcher Beruf an! Ich lebe ſo wenig nach
einem Berufe, als die Blume nach einem Berufe wächſt und
duftet.

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[490/0498] oder als das „Ziel der Geſchichte“; er iſt ihm nicht Ge¬ genwart. Nur Theil haben kann der Einzelne an der Stiftung des Gottesreiches oder, nach moderner Vorſtellung von derſelben Sache, an der Entwicklung und Geſchichte der Menſchheit, und nur ſoweit er daran Theil hat, kommt ihm ein chriſtlicher oder, nach modernem Ausdruck, menſchlicher Werth zu, im Uebrigen iſt er Staub und ein Madenſack. Daß der Einzelne für ſich eine Weltgeſchichte iſt und an der übrigen Weltgeſchichte ſein Eigenthum beſitzt, das geht über's Chriſtliche hinaus. Dem Chriſten iſt die Weltgeſchichte das Höhere, weil ſie die Geſchichte Chriſti oder „des Men¬ ſchen“ iſt; dem Egoiſten hat nur ſeine Geſchichte Werth, weil er nur ſich entwickeln will, nicht die Menſchheits-Idee, nicht den Plan Gottes, nicht die Abſichten der Vorſehung, nicht die Freiheit u. dgl. Er ſieht ſich nicht für ein Werkzeug der Idee oder ein Gefäß Gottes an, er erkennt keinen Beruf an, er wähnt nicht, zur Fortentwicklung der Menſchheit dazu¬ ſein und ſein Scherflein dazu beitragen zu müſſen, ſondern er lebt ſich aus, unbeſorgt darum, wie gut oder ſchlecht die Menſchheit dabei fahre. Ließe es nicht das Mißverſtändniß zu, als ſollte ein Naturzuſtand geprieſen werden, ſo könnte man an Lenau's „Drei Zigeuner“ erinnern. — Was, bin Ich dazu in der Welt, um Ideen zu realiſiren? Um etwa zur Verwirklichung der Idee „Staat“ durch mein Bürgerthum das Meinige zu thun, oder durch die Ehe, als Ehegatte und Vater, die Idee der Familie zu einem Daſein zu bringen? Was ficht Mich ein ſolcher Beruf an! Ich lebe ſo wenig nach einem Berufe, als die Blume nach einem Berufe wächſt und duftet.

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 490. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/498>, abgerufen am 29.04.2024.