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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Neuntes Kapitel. §. 92.
den, ob totale oder partiale, gehen 6), und überdiess von
den Evangelisten kein strenges Festhalten an der medicini-
schen Kunstsprache zu erwarten ist, so müssen wir, was
sie unter Paralytischen verstehen, aus ihren eignen Be-
schreibungen von dergleichen Kranken entnehmen. In
unsrer Stelle nun erfahren wir von dem paralutikos, dass
er auf einer kline getragen werden musste, und dass, ihn
zum Aufstehen und Tragen seines Bettes zu befähigen,
für ein nie gesehenes paradoxon galt, woraus wir also auf
eine Lähmung wenigstens der Füsse schliessen müssen.
Während von Schmerzen und einem hitzigen Charakter der
Krankheit in unsrem Falle nicht die Rede ist, wird ein
solcher in der Geschichte Matth. 8, 6. unverkennbar vor-
ausgesezt, wenn der Centurio von seinem Knechte sagt:
bebletai-paralutikos, deinos basanizomenos, so dass wir
also unter der paralusis in den Evangelien bald eine
schmerzlos lähmende, bald eine schmerzhaft gichtische
Gliederkrankheit zu verstehen hätten 7).

In Schilderung der Scene, wie der Paralytische Matth.
9, 1 ff. parall. zu Jesu gebracht wird, findet zwischen den
drei Berichten eine merkliche Abstufung statt. Matthäus
sagt einfach, wie Jesus von einem Ausflug an das jensei-
tige Ufer nach Kapernaum zurückgekehrt sei, habe man
ihm einen Paralytischen, auf einem Lager hingestreckt, ge-
bracht. Lukas beschreibt genau, wie Jesus, von einer
grossen Menge, namentlich von Pharisäern und Schrift-
gelehrten, umgeben, in einem Hause lehrte und heilte, und
wie die Träger des Paralytischen, weil sie vor der Volks-
menge nicht durch die Thüre zu Jesu gelangen konnten,
den Kranken durch das Dach zu ihm niederliessen. Be-

6) Man sehe sie bei Wetstein, N. T. 1, S. 284, und in Wahl's
Clavis u. d. A. nach.
7) vgl. Winer, Realw. 1 Aufl. S. 776. und Fritzsche, in Matth.
p. 194.

Neuntes Kapitel. §. 92.
den, ob totale oder partiale, gehen 6), und überdieſs von
den Evangelisten kein strenges Festhalten an der medicini-
schen Kunstsprache zu erwarten ist, so müssen wir, was
sie unter Paralytischen verstehen, aus ihren eignen Be-
schreibungen von dergleichen Kranken entnehmen. In
unsrer Stelle nun erfahren wir von dem παραλυτικὸς, daſs
er auf einer κλίνη getragen werden muſste, und daſs, ihn
zum Aufstehen und Tragen seines Bettes zu befähigen,
für ein nie gesehenes παράδοξον galt, woraus wir also auf
eine Lähmung wenigstens der Füſse schlieſsen müssen.
Während von Schmerzen und einem hitzigen Charakter der
Krankheit in unsrem Falle nicht die Rede ist, wird ein
solcher in der Geschichte Matth. 8, 6. unverkennbar vor-
ausgesezt, wenn der Centurio von seinem Knechte sagt:
βέβληται-παραλυτικὸς, δεινῶς βασανιζόμενος, so daſs wir
also unter der παράλυσις in den Evangelien bald eine
schmerzlos lähmende, bald eine schmerzhaft gichtische
Gliederkrankheit zu verstehen hätten 7).

In Schilderung der Scene, wie der Paralytische Matth.
9, 1 ff. parall. zu Jesu gebracht wird, findet zwischen den
drei Berichten eine merkliche Abstufung statt. Matthäus
sagt einfach, wie Jesus von einem Ausflug an das jensei-
tige Ufer nach Kapernaum zurückgekehrt sei, habe man
ihm einen Paralytischen, auf einem Lager hingestreckt, ge-
bracht. Lukas beschreibt genau, wie Jesus, von einer
groſsen Menge, namentlich von Pharisäern und Schrift-
gelehrten, umgeben, in einem Hause lehrte und heilte, und
wie die Träger des Paralytischen, weil sie vor der Volks-
menge nicht durch die Thüre zu Jesu gelangen konnten,
den Kranken durch das Dach zu ihm niederlieſsen. Be-

6) Man sehe sie bei Wetstein, N. T. 1, S. 284, und in Wahl's
Clavis u. d. A. nach.
7) vgl. Winer, Realw. 1 Aufl. S. 776. und Fritzsche, in Matth.
p. 194.
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[89/0108] Neuntes Kapitel. §. 92. den, ob totale oder partiale, gehen 6), und überdieſs von den Evangelisten kein strenges Festhalten an der medicini- schen Kunstsprache zu erwarten ist, so müssen wir, was sie unter Paralytischen verstehen, aus ihren eignen Be- schreibungen von dergleichen Kranken entnehmen. In unsrer Stelle nun erfahren wir von dem παραλυτικὸς, daſs er auf einer κλίνη getragen werden muſste, und daſs, ihn zum Aufstehen und Tragen seines Bettes zu befähigen, für ein nie gesehenes παράδοξον galt, woraus wir also auf eine Lähmung wenigstens der Füſse schlieſsen müssen. Während von Schmerzen und einem hitzigen Charakter der Krankheit in unsrem Falle nicht die Rede ist, wird ein solcher in der Geschichte Matth. 8, 6. unverkennbar vor- ausgesezt, wenn der Centurio von seinem Knechte sagt: βέβληται-παραλυτικὸς, δεινῶς βασανιζόμενος, so daſs wir also unter der παράλυσις in den Evangelien bald eine schmerzlos lähmende, bald eine schmerzhaft gichtische Gliederkrankheit zu verstehen hätten 7). In Schilderung der Scene, wie der Paralytische Matth. 9, 1 ff. parall. zu Jesu gebracht wird, findet zwischen den drei Berichten eine merkliche Abstufung statt. Matthäus sagt einfach, wie Jesus von einem Ausflug an das jensei- tige Ufer nach Kapernaum zurückgekehrt sei, habe man ihm einen Paralytischen, auf einem Lager hingestreckt, ge- bracht. Lukas beschreibt genau, wie Jesus, von einer groſsen Menge, namentlich von Pharisäern und Schrift- gelehrten, umgeben, in einem Hause lehrte und heilte, und wie die Träger des Paralytischen, weil sie vor der Volks- menge nicht durch die Thüre zu Jesu gelangen konnten, den Kranken durch das Dach zu ihm niederlieſsen. Be- 6) Man sehe sie bei Wetstein, N. T. 1, S. 284, und in Wahl's Clavis u. d. A. nach. 7) vgl. Winer, Realw. 1 Aufl. S. 776. und Fritzsche, in Matth. p. 194.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/108>, abgerufen am 29.04.2024.