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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Zweiter Abschnitt.
denkt man die Struktur morgenländischer Häuser, auf de-
ren plattes Dach aus dem oberen Stockwerk eine Öffnung
führte 8), und nimmt man den rabbinischen Sprachgebrauch
hinzu, in welchem der via per portam (drk ptkhym) die
via per tectum (drk ggyn) als nicht minder ordentlicher
Weg, namentlich um in das uperoon zu gelangen, gegen-
übergestellt wird: so kann man unter dem kathienai dia
ton keramon schwerlich etwas Anderes verstehen, als dass
die Träger, welche entweder mittelst einer unmittelbar von
der Strasse dahin führenden Treppe, oder vom Dache des
Nachbarhauses aus auf das platte Dach des Hauses, in
welchem Jesus sich befand, gelangt waren, den Kranken
sammt seinem Bette durch die im Dachboden bereits be-
findliche Öffnung, wie es scheint an Stricken, zu Jesu her-
abgelassen haben. Markus, der in der Verlegung der Sce-
ne nach Kapernaum mit Matthäus, in Schilderung des gros-
sen Gedränges und der dadurch veranlassten Besteigung des
Daches mit Lukas zusammenstimmt, geht, ausserdem, dass
er die Zahl der Träger auf viere festsezt, darin noch wei-
ter als Lukas, dass er dieselben, ohne Rücksicht auf die
schon vorher vorhandene Thüre, das Dach abdecken und
durch eine erst aufgegrabene Öffnung den Kranken hinun-
terbefördern lässt.

Fragen wir auch hier, in welcher Richtung, ob auf-
wärts oder abwärts, der Klimax wohl eher entstanden sein
möge, so hat die auf der Spitze desselben stehende Erzäh-
lung des Markus so viel Schwieriges, dass sie wohl kaum
für die der Wahrheit nächste wird angesehen werden kön-
nen. Denn nicht allein von Gegnern ist gefragt worden,
wie denn das Dach habe aufgegraben werden können, oh-
ne die darunter Befindlichen zu beschädigen 10)? sondern
9)

8) Winer, a. a. O. u. d. A. Dach.
10) Woolston, Disc. 4.
9) Lightfoot, p. 601.

Zweiter Abschnitt.
denkt man die Struktur morgenländischer Häuser, auf de-
ren plattes Dach aus dem oberen Stockwerk eine Öffnung
führte 8), und nimmt man den rabbinischen Sprachgebrauch
hinzu, in welchem der via per portam (דרך פתחים) die
via per tectum (דרך גגין) als nicht minder ordentlicher
Weg, namentlich um in das ὑπερῷον zu gelangen, gegen-
übergestellt wird: so kann man unter dem καϑιέναι διὰ
τῶν κεράμων schwerlich etwas Anderes verstehen, als daſs
die Träger, welche entweder mittelst einer unmittelbar von
der Strasse dahin führenden Treppe, oder vom Dache des
Nachbarhauses aus auf das platte Dach des Hauses, in
welchem Jesus sich befand, gelangt waren, den Kranken
sammt seinem Bette durch die im Dachboden bereits be-
findliche Öffnung, wie es scheint an Stricken, zu Jesu her-
abgelassen haben. Markus, der in der Verlegung der Sce-
ne nach Kapernaum mit Matthäus, in Schilderung des gros-
sen Gedränges und der dadurch veranlaſsten Besteigung des
Daches mit Lukas zusammenstimmt, geht, ausserdem, daſs
er die Zahl der Träger auf viere festsezt, darin noch wei-
ter als Lukas, daſs er dieselben, ohne Rücksicht auf die
schon vorher vorhandene Thüre, das Dach abdecken und
durch eine erst aufgegrabene Öffnung den Kranken hinun-
terbefördern läſst.

Fragen wir auch hier, in welcher Richtung, ob auf-
wärts oder abwärts, der Klimax wohl eher entstanden sein
möge, so hat die auf der Spitze desselben stehende Erzäh-
lung des Markus so viel Schwieriges, daſs sie wohl kaum
für die der Wahrheit nächste wird angesehen werden kön-
nen. Denn nicht allein von Gegnern ist gefragt worden,
wie denn das Dach habe aufgegraben werden können, oh-
ne die darunter Befindlichen zu beschädigen 10)? sondern
9)

8) Winer, a. a. O. u. d. A. Dach.
10) Woolston, Disc. 4.
9) Lightfoot, p. 601.
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[90/0109] Zweiter Abschnitt. denkt man die Struktur morgenländischer Häuser, auf de- ren plattes Dach aus dem oberen Stockwerk eine Öffnung führte 8), und nimmt man den rabbinischen Sprachgebrauch hinzu, in welchem der via per portam (דרך פתחים) die via per tectum (דרך גגין) als nicht minder ordentlicher Weg, namentlich um in das ὑπερῷον zu gelangen, gegen- übergestellt wird: so kann man unter dem καϑιέναι διὰ τῶν κεράμων schwerlich etwas Anderes verstehen, als daſs die Träger, welche entweder mittelst einer unmittelbar von der Strasse dahin führenden Treppe, oder vom Dache des Nachbarhauses aus auf das platte Dach des Hauses, in welchem Jesus sich befand, gelangt waren, den Kranken sammt seinem Bette durch die im Dachboden bereits be- findliche Öffnung, wie es scheint an Stricken, zu Jesu her- abgelassen haben. Markus, der in der Verlegung der Sce- ne nach Kapernaum mit Matthäus, in Schilderung des gros- sen Gedränges und der dadurch veranlaſsten Besteigung des Daches mit Lukas zusammenstimmt, geht, ausserdem, daſs er die Zahl der Träger auf viere festsezt, darin noch wei- ter als Lukas, daſs er dieselben, ohne Rücksicht auf die schon vorher vorhandene Thüre, das Dach abdecken und durch eine erst aufgegrabene Öffnung den Kranken hinun- terbefördern läſst. Fragen wir auch hier, in welcher Richtung, ob auf- wärts oder abwärts, der Klimax wohl eher entstanden sein möge, so hat die auf der Spitze desselben stehende Erzäh- lung des Markus so viel Schwieriges, daſs sie wohl kaum für die der Wahrheit nächste wird angesehen werden kön- nen. Denn nicht allein von Gegnern ist gefragt worden, wie denn das Dach habe aufgegraben werden können, oh- ne die darunter Befindlichen zu beschädigen 10)? sondern 9) 8) Winer, a. a. O. u. d. A. Dach. 10) Woolston, Disc. 4. 9) Lightfoot, p. 601.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/109>, abgerufen am 29.04.2024.