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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Zweiter Abschnitt.
wird nun vorausgesezt, Jesus habe die Frau auch ungese-
hen wohl erkannt, und mit Rücksicht auf ihre Fähigkeit,
durch diese leibliche Hülfe auch geistig gewonnen zu wer-
den, seine heilende Kraft wohlbedacht in sie ausströmen
lassen, sich aber, um ihre falsche Scham zu brechen und
sie zum offenen Bekenntniss zu treiben, gestellt, als ob er
nicht wüsste, wer ihn berührt habe. Allein das christliche
Bewusstsein, d. h. in dergleichen Fällen nichts Anderes,
als die fortgeschrittene religiöse Bildung unsrer Zeit, wel-
che die alterthümlichen Vorstellungen der Bibel nicht zu
den ihrigen machen will, hat zu schweigen, wo es eben
nicht auf dogmatische Aneignung, sondern rein auf exege-
tische Ermittlung der biblischen Vorstellungen ankommt.
Wie von der Einmischung dieses angeblich christlichen Be-
wusstseins alle Verirrungen der Exegese herrühren, so hat
es auch hier den genannten Ausleger von dem offenbaren
Sinn der Berichte abgeführt. Denn nicht nur lautet in
den beiden ausführlicheren Erzählungen die Frage Jesu:
tis mou epsato; in der Art, wie er sie bei Lukas wieder-
holt und bei Markus durch ein suchendes Umherblicken
bekräftigt, durchaus als eine ernstlich gemeinte, wie ja
überhaupt die Bemühung dieser beiden Evangelisten dahin
geht, das Wunderbare an der Heilkraft Jesu dadurch in
ein besonders helles Licht zu setzen, dass durch blosse
glaubige Berührung seines Gewandes, ohne dass er die be-
rührende Person erst zu kennen, oder ein Wort zu ihr zu spre-
chen brauchte, Heilung von ihm zu erlangen gewesen sei:
sondern auch ursprünglich schon in der kürzeren Darstel-
lung des Matthäus liegt in dem proselthousa opisthen epsa-
to und episrapheis idon auten deutlich diess, dass Jesus
erst nachträglich die Frau kennen gelernt habe, nachdem
bereits die heilende Kraft in sie ausgeströmt war. Lässt
sich somit eine der Heilung vorausgegangene Kenntniss der
Frau und ein specieller Wille, ihr zu helfen, bei Jesu nicht
nachweisen, so bliebe für denjenigen, welcher keine un-

Zweiter Abschnitt.
wird nun vorausgesezt, Jesus habe die Frau auch ungese-
hen wohl erkannt, und mit Rücksicht auf ihre Fähigkeit,
durch diese leibliche Hülfe auch geistig gewonnen zu wer-
den, seine heilende Kraft wohlbedacht in sie ausströmen
lassen, sich aber, um ihre falsche Scham zu brechen und
sie zum offenen Bekenntniſs zu treiben, gestellt, als ob er
nicht wüſste, wer ihn berührt habe. Allein das christliche
Bewuſstsein, d. h. in dergleichen Fällen nichts Anderes,
als die fortgeschrittene religiöse Bildung unsrer Zeit, wel-
che die alterthümlichen Vorstellungen der Bibel nicht zu
den ihrigen machen will, hat zu schweigen, wo es eben
nicht auf dogmatische Aneignung, sondern rein auf exege-
tische Ermittlung der biblischen Vorstellungen ankommt.
Wie von der Einmischung dieses angeblich christlichen Be-
wuſstseins alle Verirrungen der Exegese herrühren, so hat
es auch hier den genannten Ausleger von dem offenbaren
Sinn der Berichte abgeführt. Denn nicht nur lautet in
den beiden ausführlicheren Erzählungen die Frage Jesu:
τίς μου ἥψατο; in der Art, wie er sie bei Lukas wieder-
holt und bei Markus durch ein suchendes Umherblicken
bekräftigt, durchaus als eine ernstlich gemeinte, wie ja
überhaupt die Bemühung dieser beiden Evangelisten dahin
geht, das Wunderbare an der Heilkraft Jesu dadurch in
ein besonders helles Licht zu setzen, daſs durch bloſse
glaubige Berührung seines Gewandes, ohne daſs er die be-
rührende Person erst zu kennen, oder ein Wort zu ihr zu spre-
chen brauchte, Heilung von ihm zu erlangen gewesen sei:
sondern auch ursprünglich schon in der kürzeren Darstel-
lung des Matthäus liegt in dem προσελϑοῦσα ὄπισϑεν ἥψα-
το und ἐπιςραφεὶς ἰδὼν αὐτὴν deutlich dieſs, daſs Jesus
erst nachträglich die Frau kennen gelernt habe, nachdem
bereits die heilende Kraft in sie ausgeströmt war. Läſst
sich somit eine der Heilung vorausgegangene Kenntniſs der
Frau und ein specieller Wille, ihr zu helfen, bei Jesu nicht
nachweisen, so bliebe für denjenigen, welcher keine un-

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[98/0117] Zweiter Abschnitt. wird nun vorausgesezt, Jesus habe die Frau auch ungese- hen wohl erkannt, und mit Rücksicht auf ihre Fähigkeit, durch diese leibliche Hülfe auch geistig gewonnen zu wer- den, seine heilende Kraft wohlbedacht in sie ausströmen lassen, sich aber, um ihre falsche Scham zu brechen und sie zum offenen Bekenntniſs zu treiben, gestellt, als ob er nicht wüſste, wer ihn berührt habe. Allein das christliche Bewuſstsein, d. h. in dergleichen Fällen nichts Anderes, als die fortgeschrittene religiöse Bildung unsrer Zeit, wel- che die alterthümlichen Vorstellungen der Bibel nicht zu den ihrigen machen will, hat zu schweigen, wo es eben nicht auf dogmatische Aneignung, sondern rein auf exege- tische Ermittlung der biblischen Vorstellungen ankommt. Wie von der Einmischung dieses angeblich christlichen Be- wuſstseins alle Verirrungen der Exegese herrühren, so hat es auch hier den genannten Ausleger von dem offenbaren Sinn der Berichte abgeführt. Denn nicht nur lautet in den beiden ausführlicheren Erzählungen die Frage Jesu: τίς μου ἥψατο; in der Art, wie er sie bei Lukas wieder- holt und bei Markus durch ein suchendes Umherblicken bekräftigt, durchaus als eine ernstlich gemeinte, wie ja überhaupt die Bemühung dieser beiden Evangelisten dahin geht, das Wunderbare an der Heilkraft Jesu dadurch in ein besonders helles Licht zu setzen, daſs durch bloſse glaubige Berührung seines Gewandes, ohne daſs er die be- rührende Person erst zu kennen, oder ein Wort zu ihr zu spre- chen brauchte, Heilung von ihm zu erlangen gewesen sei: sondern auch ursprünglich schon in der kürzeren Darstel- lung des Matthäus liegt in dem προσελϑοῦσα ὄπισϑεν ἥψα- το und ἐπιςραφεὶς ἰδὼν αὐτὴν deutlich dieſs, daſs Jesus erst nachträglich die Frau kennen gelernt habe, nachdem bereits die heilende Kraft in sie ausgeströmt war. Läſst sich somit eine der Heilung vorausgegangene Kenntniſs der Frau und ein specieller Wille, ihr zu helfen, bei Jesu nicht nachweisen, so bliebe für denjenigen, welcher keine un-

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/117>, abgerufen am 29.04.2024.