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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Neuntes Kapitel. §. 93.
willkührliche Äusserung der Heilkraft Jesu annehmen will,
nur übrig, einen beständigen allgemeinen Willen, zu heilen,
in ihm vorauszusetzen, mit welchem dann nur der Glau-
be im Kranken zusammentreffen durfte, um die wirkliche
Heilung hervorzubringen. Allein dass, unerachtet eine specielle
Willensrichtung auf die Heilung dieser Frau in Jesu nicht
vorhanden war, sie durch ihren blossen Glauben, auch oh-
ne Berührung seines Kleides gesund geworden wäre, ist
gewiss nicht die Vorstellung der Evangelisten, sondern es
tritt hier an die Stelle des individuellen Willensaktes von
Seiten Jesu die Berührung von Seiten des Kranken; diese
ist es, welche statt des ersteren die in Jesu ruhende Kraft
zur Äusserung bringt: so dass mithin das Materialistische
der Vorstellung auf diesem Wege nicht zu vermeiden ist.

Einen Schritt weiter muss die rationalistische Ausle-
gung gehen, welcher nicht bloss, wie dem modernen Su-
pranaturalismus, ein unbewusstes, sondern überhaupt das
Ausgehen heilender Kräfte von Jesu unglaublich ist, wel-
che aber doch die Evangelisten geschichtlich wahr erzäh-
len lassen will. Nach ihr wurde Jesus zu der Frage, wer
ihn berührt habe, lediglich dadurch veranlasst, dass er sich
im Vorwärtsgehen aufgehalten fühlte; dass die Empfindung
einer dunamis exelthousa die Veranlassung gewesen sei, is-
blosser Schluss zweier Referenten, von welchen der eine
Markus, es auch bloss als eigene Bemerkung giebt, und nur
Lukas es der Frage Jesu einverleibt; die Genesung der Frau
wurde durch ihr exaltirtes Zutrauen bewirkt, vermöge
dessen sie bei der Berührung des Saumes Jesu in allen
Nerven zusammenschauderte, wodurch vielleicht eine plözli-
che Zusammenziehung der erweiterten Blutgefässe herbei-
geführt wurde; übrigens konnte sie im Augenblick nur
meinen, nicht gewiss wissen, geheilt zu sein, und erst
nach und nach, vielleicht in Folge des Gebrauchs von Mit-
teln, die ihr Jesus anrieth, wird das Übel sich völlig ver-

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Neuntes Kapitel. §. 93.
willkührliche Äusserung der Heilkraft Jesu annehmen will,
nur übrig, einen beständigen allgemeinen Willen, zu heilen,
in ihm vorauszusetzen, mit welchem dann nur der Glau-
be im Kranken zusammentreffen durfte, um die wirkliche
Heilung hervorzubringen. Allein daſs, unerachtet eine specielle
Willensrichtung auf die Heilung dieser Frau in Jesu nicht
vorhanden war, sie durch ihren bloſsen Glauben, auch oh-
ne Berührung seines Kleides gesund geworden wäre, ist
gewiſs nicht die Vorstellung der Evangelisten, sondern es
tritt hier an die Stelle des individuellen Willensaktes von
Seiten Jesu die Berührung von Seiten des Kranken; diese
ist es, welche statt des ersteren die in Jesu ruhende Kraft
zur Äusserung bringt: so daſs mithin das Materialistische
der Vorstellung auf diesem Wege nicht zu vermeiden ist.

Einen Schritt weiter muſs die rationalistische Ausle-
gung gehen, welcher nicht bloſs, wie dem modernen Su-
pranaturalismus, ein unbewuſstes, sondern überhaupt das
Ausgehen heilender Kräfte von Jesu unglaublich ist, wel-
che aber doch die Evangelisten geschichtlich wahr erzäh-
len lassen will. Nach ihr wurde Jesus zu der Frage, wer
ihn berührt habe, lediglich dadurch veranlaſst, daſs er sich
im Vorwärtsgehen aufgehalten fühlte; daſs die Empfindung
einer δύναμις ἐξελϑοῦσα die Veranlassung gewesen sei, is-
bloſser Schluſs zweier Referenten, von welchen der eine
Markus, es auch bloſs als eigene Bemerkung giebt, und nur
Lukas es der Frage Jesu einverleibt; die Genesung der Frau
wurde durch ihr exaltirtes Zutrauen bewirkt, vermöge
dessen sie bei der Berührung des Saumes Jesu in allen
Nerven zusammenschauderte, wodurch vielleicht eine plözli-
che Zusammenziehung der erweiterten Blutgefäſse herbei-
geführt wurde; übrigens konnte sie im Augenblick nur
meinen, nicht gewiſs wissen, geheilt zu sein, und erst
nach und nach, vielleicht in Folge des Gebrauchs von Mit-
teln, die ihr Jesus anrieth, wird das Übel sich völlig ver-

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[99/0118] Neuntes Kapitel. §. 93. willkührliche Äusserung der Heilkraft Jesu annehmen will, nur übrig, einen beständigen allgemeinen Willen, zu heilen, in ihm vorauszusetzen, mit welchem dann nur der Glau- be im Kranken zusammentreffen durfte, um die wirkliche Heilung hervorzubringen. Allein daſs, unerachtet eine specielle Willensrichtung auf die Heilung dieser Frau in Jesu nicht vorhanden war, sie durch ihren bloſsen Glauben, auch oh- ne Berührung seines Kleides gesund geworden wäre, ist gewiſs nicht die Vorstellung der Evangelisten, sondern es tritt hier an die Stelle des individuellen Willensaktes von Seiten Jesu die Berührung von Seiten des Kranken; diese ist es, welche statt des ersteren die in Jesu ruhende Kraft zur Äusserung bringt: so daſs mithin das Materialistische der Vorstellung auf diesem Wege nicht zu vermeiden ist. Einen Schritt weiter muſs die rationalistische Ausle- gung gehen, welcher nicht bloſs, wie dem modernen Su- pranaturalismus, ein unbewuſstes, sondern überhaupt das Ausgehen heilender Kräfte von Jesu unglaublich ist, wel- che aber doch die Evangelisten geschichtlich wahr erzäh- len lassen will. Nach ihr wurde Jesus zu der Frage, wer ihn berührt habe, lediglich dadurch veranlaſst, daſs er sich im Vorwärtsgehen aufgehalten fühlte; daſs die Empfindung einer δύναμις ἐξελϑοῦσα die Veranlassung gewesen sei, is- bloſser Schluſs zweier Referenten, von welchen der eine Markus, es auch bloſs als eigene Bemerkung giebt, und nur Lukas es der Frage Jesu einverleibt; die Genesung der Frau wurde durch ihr exaltirtes Zutrauen bewirkt, vermöge dessen sie bei der Berührung des Saumes Jesu in allen Nerven zusammenschauderte, wodurch vielleicht eine plözli- che Zusammenziehung der erweiterten Blutgefäſse herbei- geführt wurde; übrigens konnte sie im Augenblick nur meinen, nicht gewiſs wissen, geheilt zu sein, und erst nach und nach, vielleicht in Folge des Gebrauchs von Mit- teln, die ihr Jesus anrieth, wird das Übel sich völlig ver- 7 *

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/118>, abgerufen am 29.04.2024.