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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Zweiter Abschnitt.
Argument abgeleitet. Nur ein solches Heilen, sagt man,
war am Sabbat verboten, welches mit irgend einer Be-
schäftigung verbunden war: also müssen die Pharisäer,
wenn sie, wie es hier heisst, von Jesu eine Übertretung
der Sabbatsgesetze durch Heilen erwarteten, gewusst ha-
ben, dass er nicht durch das blosse Wort, sondern durch
Medicamente und chirurgische Operationen zu heilen pfleg-
te 7). Da indessen, wie Paulus selbst anderswo anführt,
am Sabbat das Heilen auch nur durch eine sonst erlaubte
Beschwörung verboten war 8), da ferner zwischen den
Schulen Hillel's und Schammai's ein Streit obwaltete, ob
auch nur das Trösten der Kranken am Sabbat erlaubt sei 9),
und da überdiess nach Paulus eigener Bemerkung die äl-
teren Rabbinen im Punkte des Sabbats strenger waren als
diejenigen, von welchen die uns vorliegenden Schriften
über diesen Gegenstand herstammen 10): so konnten die
Heilungen Jesu, auch ohne dass natürliche Mittel dabei
in's Spiel kamen, von chicanirenden Pharisäern unter die
Kategorie von Sabbatsverletzungen gezogen werden. Dem
Haupteinwand gegen die rationalistische Erklärung, der aus
dem Schweigen der Evangelisten von natürlichen Mitteln
hergenommen wird, glaubt Paulus für unsern Fall durch
die Wendung zu begegnen, dass damals in der Synagoge
keine zur Anwendung gekommen seien, sondern Jesus
habe sich die Hand vorzeigen lassen, um zu sehen, wie
die bisher von ihm angeordneten Mittel (also werden der-
gleichen doch fingirt) geholfen hätten, und da habe er sie
bereits völlig geheilt gefunden; denn dass sie bereits wie-
derhergestellt gewesen sei, nicht dass sie nun plötzlich ge-
sund geworden, bedeute das apokatesathe sämmtlicher Re-

7) Paulus, a. a. O. S. 49. 54. Köster, Immanuel, S. 185 f.
8) a. a. O. S. 83., aus tract. Schabbat.
9) Schabbat, f. 12, 1, bei Schöttgen, 1, p. 123.
10) a. d. zulezt a. O.

Zweiter Abschnitt.
Argument abgeleitet. Nur ein solches Heilen, sagt man,
war am Sabbat verboten, welches mit irgend einer Be-
schäftigung verbunden war: also müssen die Pharisäer,
wenn sie, wie es hier heiſst, von Jesu eine Übertretung
der Sabbatsgesetze durch Heilen erwarteten, gewuſst ha-
ben, daſs er nicht durch das bloſse Wort, sondern durch
Medicamente und chirurgische Operationen zu heilen pfleg-
te 7). Da indessen, wie Paulus selbst anderswo anführt,
am Sabbat das Heilen auch nur durch eine sonst erlaubte
Beschwörung verboten war 8), da ferner zwischen den
Schulen Hillel's und Schammai's ein Streit obwaltete, ob
auch nur das Trösten der Kranken am Sabbat erlaubt sei 9),
und da überdieſs nach Paulus eigener Bemerkung die äl-
teren Rabbinen im Punkte des Sabbats strenger waren als
diejenigen, von welchen die uns vorliegenden Schriften
über diesen Gegenstand herstammen 10): so konnten die
Heilungen Jesu, auch ohne daſs natürliche Mittel dabei
in's Spiel kamen, von chicanirenden Pharisäern unter die
Kategorie von Sabbatsverletzungen gezogen werden. Dem
Haupteinwand gegen die rationalistische Erklärung, der aus
dem Schweigen der Evangelisten von natürlichen Mitteln
hergenommen wird, glaubt Paulus für unsern Fall durch
die Wendung zu begegnen, daſs damals in der Synagoge
keine zur Anwendung gekommen seien, sondern Jesus
habe sich die Hand vorzeigen lassen, um zu sehen, wie
die bisher von ihm angeordneten Mittel (also werden der-
gleichen doch fingirt) geholfen hätten, und da habe er sie
bereits völlig geheilt gefunden; denn daſs sie bereits wie-
derhergestellt gewesen sei, nicht daſs sie nun plötzlich ge-
sund geworden, bedeute das ἀποκατεςάϑη sämmtlicher Re-

7) Paulus, a. a. O. S. 49. 54. Köster, Immanuel, S. 185 f.
8) a. a. O. S. 83., aus tract. Schabbat.
9) Schabbat, f. 12, 1, bei Schöttgen, 1, p. 123.
10) a. d. zulezt a. O.
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[124/0143] Zweiter Abschnitt. Argument abgeleitet. Nur ein solches Heilen, sagt man, war am Sabbat verboten, welches mit irgend einer Be- schäftigung verbunden war: also müssen die Pharisäer, wenn sie, wie es hier heiſst, von Jesu eine Übertretung der Sabbatsgesetze durch Heilen erwarteten, gewuſst ha- ben, daſs er nicht durch das bloſse Wort, sondern durch Medicamente und chirurgische Operationen zu heilen pfleg- te 7). Da indessen, wie Paulus selbst anderswo anführt, am Sabbat das Heilen auch nur durch eine sonst erlaubte Beschwörung verboten war 8), da ferner zwischen den Schulen Hillel's und Schammai's ein Streit obwaltete, ob auch nur das Trösten der Kranken am Sabbat erlaubt sei 9), und da überdieſs nach Paulus eigener Bemerkung die äl- teren Rabbinen im Punkte des Sabbats strenger waren als diejenigen, von welchen die uns vorliegenden Schriften über diesen Gegenstand herstammen 10): so konnten die Heilungen Jesu, auch ohne daſs natürliche Mittel dabei in's Spiel kamen, von chicanirenden Pharisäern unter die Kategorie von Sabbatsverletzungen gezogen werden. Dem Haupteinwand gegen die rationalistische Erklärung, der aus dem Schweigen der Evangelisten von natürlichen Mitteln hergenommen wird, glaubt Paulus für unsern Fall durch die Wendung zu begegnen, daſs damals in der Synagoge keine zur Anwendung gekommen seien, sondern Jesus habe sich die Hand vorzeigen lassen, um zu sehen, wie die bisher von ihm angeordneten Mittel (also werden der- gleichen doch fingirt) geholfen hätten, und da habe er sie bereits völlig geheilt gefunden; denn daſs sie bereits wie- derhergestellt gewesen sei, nicht daſs sie nun plötzlich ge- sund geworden, bedeute das ἀποκατεςάϑη sämmtlicher Re- 7) Paulus, a. a. O. S. 49. 54. Köster, Immanuel, S. 185 f. 8) a. a. O. S. 83., aus tract. Schabbat. 9) Schabbat, f. 12, 1, bei Schöttgen, 1, p. 123. 10) a. d. zulezt a. O.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/143>, abgerufen am 29.04.2024.