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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Zweiter Abschnitt.
Sabbat war, die Feindschaft der jüdischen Hierarchen auf
sich ladet. Auf eigene Weise glaubten seit Woolston 17)
Manche mit dieser Geschichte durch die Annahme fertig
zu werden, dass Jesus hier nicht einen wirklich Leiden-
den geheilt, sondern nur einen verstellten Kranken entlarvt
habe 18). Der einzige Grund, der mit einigem Schein hie-
für angeführt werden kann, ist, dass der Gesundgemachte
Jesum seinen Feinden als denjenigen angebe, der ihm am
Sabbat sein Bette zu tragen befohlen habe (V. 15. vgl. 11 ff.),
was sich nur dann erklären lasse, wenn Jesus ihm etwas
Unwillkommenes erwiesen hatte. Allein jene Anzeige konnte
er auch entweder in guter Meinung machen, wie der Blind-
geborene (Joh. 9, 11. 25.), oder wenigstens in der unschul-
digen, den Vorwurf der Sabbatsverletzung von sich auf
einen Stärkeren abzuwälzen 19). Dass der Mensch wirk-
lich krank, und zwar an einem langwierigen Übel krank
gewesen sei, giebt wenigstens der Evangelist als seine
Ansicht, wenn er ihn als triakonta kai okto ete ekhon en
te astheneia bezeichnet (V. 5.), wovon Paulus seine früher
vorgetragene gewaltsame Erklärung, nach welcher er die
38 Jahre auf das Lebensalter, nicht auf die Krankheitszeit
des Mannes bezog, neuerlich selbst nicht mehr vertreten
mag 20). Unerklärlich bleibt bei jener Ansicht von dem
Vorfall auch, was Jesus bei einer späteren Begegnung zu
dem Geheilten sprach (V. 14.): ide ugies gegonas; meketi
amartane, ina me kheiron ti soi genetai. Paulus selbst sieht
sich durch diese Worte genöthigt, ein wirkliches, nur un-
bedeutendes Unwohlsein bei dem Menschen vorauszuse-
zen, d. h. das Unzureichende seiner Grundansicht von
dem Vorfall selbst einzugestehen, so dass wir also hier ein
Wunder, und zwar keines der geringsten, behalten.

17) Disc. 3.
18) Paulus, Comm. 4, S. 263 ff. L. J. 1, a, S. 298 ff.
19) s. Lücke und Tholuck z. d. St.
20) vgl. mit Comm. 4, S. 290. das L. J. 1, a, S. 298.

Zweiter Abschnitt.
Sabbat war, die Feindschaft der jüdischen Hierarchen auf
sich ladet. Auf eigene Weise glaubten seit Woolston 17)
Manche mit dieser Geschichte durch die Annahme fertig
zu werden, daſs Jesus hier nicht einen wirklich Leiden-
den geheilt, sondern nur einen verstellten Kranken entlarvt
habe 18). Der einzige Grund, der mit einigem Schein hie-
für angeführt werden kann, ist, daſs der Gesundgemachte
Jesum seinen Feinden als denjenigen angebe, der ihm am
Sabbat sein Bette zu tragen befohlen habe (V. 15. vgl. 11 ff.),
was sich nur dann erklären lasse, wenn Jesus ihm etwas
Unwillkommenes erwiesen hatte. Allein jene Anzeige konnte
er auch entweder in guter Meinung machen, wie der Blind-
geborene (Joh. 9, 11. 25.), oder wenigstens in der unschul-
digen, den Vorwurf der Sabbatsverletzung von sich auf
einen Stärkeren abzuwälzen 19). Daſs der Mensch wirk-
lich krank, und zwar an einem langwierigen Übel krank
gewesen sei, giebt wenigstens der Evangelist als seine
Ansicht, wenn er ihn als τριάκοντα καὶ ὀκτὼ ἔτη ἔχων ἐν
τῇ ἀσϑενείᾳ bezeichnet (V. 5.), wovon Paulus seine früher
vorgetragene gewaltsame Erklärung, nach welcher er die
38 Jahre auf das Lebensalter, nicht auf die Krankheitszeit
des Mannes bezog, neuerlich selbst nicht mehr vertreten
mag 20). Unerklärlich bleibt bei jener Ansicht von dem
Vorfall auch, was Jesus bei einer späteren Begegnung zu
dem Geheilten sprach (V. 14.): ἴδε ὑγιὴς γέγονας· μηκέτι
ἁμάρτανε, ἵνα μὴ χεῖρόν τί σοι γένηται. Paulus selbst sieht
sich durch diese Worte genöthigt, ein wirkliches, nur un-
bedeutendes Unwohlsein bei dem Menschen vorauszuse-
zen, d. h. das Unzureichende seiner Grundansicht von
dem Vorfall selbst einzugestehen, so daſs wir also hier ein
Wunder, und zwar keines der geringsten, behalten.

17) Disc. 3.
18) Paulus, Comm. 4, S. 263 ff. L. J. 1, a, S. 298 ff.
19) s. Lücke und Tholuck z. d. St.
20) vgl. mit Comm. 4, S. 290. das L. J. 1, a, S. 298.
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[130/0149] Zweiter Abschnitt. Sabbat war, die Feindschaft der jüdischen Hierarchen auf sich ladet. Auf eigene Weise glaubten seit Woolston 17) Manche mit dieser Geschichte durch die Annahme fertig zu werden, daſs Jesus hier nicht einen wirklich Leiden- den geheilt, sondern nur einen verstellten Kranken entlarvt habe 18). Der einzige Grund, der mit einigem Schein hie- für angeführt werden kann, ist, daſs der Gesundgemachte Jesum seinen Feinden als denjenigen angebe, der ihm am Sabbat sein Bette zu tragen befohlen habe (V. 15. vgl. 11 ff.), was sich nur dann erklären lasse, wenn Jesus ihm etwas Unwillkommenes erwiesen hatte. Allein jene Anzeige konnte er auch entweder in guter Meinung machen, wie der Blind- geborene (Joh. 9, 11. 25.), oder wenigstens in der unschul- digen, den Vorwurf der Sabbatsverletzung von sich auf einen Stärkeren abzuwälzen 19). Daſs der Mensch wirk- lich krank, und zwar an einem langwierigen Übel krank gewesen sei, giebt wenigstens der Evangelist als seine Ansicht, wenn er ihn als τριάκοντα καὶ ὀκτὼ ἔτη ἔχων ἐν τῇ ἀσϑενείᾳ bezeichnet (V. 5.), wovon Paulus seine früher vorgetragene gewaltsame Erklärung, nach welcher er die 38 Jahre auf das Lebensalter, nicht auf die Krankheitszeit des Mannes bezog, neuerlich selbst nicht mehr vertreten mag 20). Unerklärlich bleibt bei jener Ansicht von dem Vorfall auch, was Jesus bei einer späteren Begegnung zu dem Geheilten sprach (V. 14.): ἴδε ὑγιὴς γέγονας· μηκέτι ἁμάρτανε, ἵνα μὴ χεῖρόν τί σοι γένηται. Paulus selbst sieht sich durch diese Worte genöthigt, ein wirkliches, nur un- bedeutendes Unwohlsein bei dem Menschen vorauszuse- zen, d. h. das Unzureichende seiner Grundansicht von dem Vorfall selbst einzugestehen, so daſs wir also hier ein Wunder, und zwar keines der geringsten, behalten. 17) Disc. 3. 18) Paulus, Comm. 4, S. 263 ff. L. J. 1, a, S. 298 ff. 19) s. Lücke und Tholuck z. d. St. 20) vgl. mit Comm. 4, S. 290. das L. J. 1, a, S. 298.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/149>, abgerufen am 29.04.2024.