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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Neuntes Kapitel. §. 95.

Was nun die historische Glaubwürdigkeit der Erzäh-
lugn betrifft, so kann man es allerdings auffallend finden,
dass einer so grossartigen Wohlthätigkeitsanstalt, wie Jo-
hannes Bethesda beschreibt, weder Josephus noch die Rab-
binen Erwähnung thun, zumal, wenn die Volksmeinung
an den Teich eine wunderbare Heilkraft knüpfte 21): doch
führt diess noch keine Entscheidung herbei. Dass in der
Beschreibung des Teiches ein fabelhafter Volksglaube liegt,
und vom Referenten acceptirt zu werden scheint (wenn
auch V. 4. unächt ist, so liegt jener Glaube doch in der
kinesis tou udatos V. 3. und dem tarakhthe V. 7.), beweist
gegen die Wahrheit der Erzählung nichts, da auch ein
Augenzeuge und Jünger Jesu den betreffenden Volksglau-
ben getheilt haben kann. Dass nun aber ein seit 38 Jah-
ren in der Art gelähmter Mensch, dass er zum Gehen un-
fähig auf einem Bette liegen musste, durch ein Wort völlig
wiederhergestellt worden sein soll, diess denkbar zu ma-
chen, reicht weder die Annahme psychologischer Einwir-
kung (der Mensch kannte ja Jesum nicht einmal, V. 13.),
noch irgend welche physische Analogie (wie Magnetismus
u. dergl.) auch nur von ferne hin, sondern wenn diess
wirklich erfolgt ist, so müssen wir den, durch welchen es
erfolgte, über alle Grenzen des Menschlichen und Natürli-
chen hinausheben. Dagegen hätte man das, dass Jesus aus
der Menge von Kranken, welche in den Hallen von Be-
thesda sich befanden, nur diesen einzigen zur Heilung aus-
erkor, niemals bedenklich finden sollen 22), da die Heilung
dessen, der am längsten krank lag, zur Verherrlichung der
messianischen Wunderkraft nicht nur besonders geeignet,
sondern auch hinreichend war. Dennoch knüpft sich an-
drerseits eben an diesen Zug die Vermuthung eines mythi-
schen Charakters der Erzählung. Auf einem grossen Schau-

21) Bretschneider, Probab. S. 69.
22) Wie Hase, L. J. §. 92.
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Neuntes Kapitel. §. 95.

Was nun die historische Glaubwürdigkeit der Erzäh-
lugn betrifft, so kann man es allerdings auffallend finden,
daſs einer so groſsartigen Wohlthätigkeitsanstalt, wie Jo-
hannes Bethesda beschreibt, weder Josephus noch die Rab-
binen Erwähnung thun, zumal, wenn die Volksmeinung
an den Teich eine wunderbare Heilkraft knüpfte 21): doch
führt dieſs noch keine Entscheidung herbei. Daſs in der
Beschreibung des Teiches ein fabelhafter Volksglaube liegt,
und vom Referenten acceptirt zu werden scheint (wenn
auch V. 4. unächt ist, so liegt jener Glaube doch in der
κίνησις τοῦ ὕδατος V. 3. und dem ταραχϑῇ V. 7.), beweist
gegen die Wahrheit der Erzählung nichts, da auch ein
Augenzeuge und Jünger Jesu den betreffenden Volksglau-
ben getheilt haben kann. Daſs nun aber ein seit 38 Jah-
ren in der Art gelähmter Mensch, daſs er zum Gehen un-
fähig auf einem Bette liegen muſste, durch ein Wort völlig
wiederhergestellt worden sein soll, dieſs denkbar zu ma-
chen, reicht weder die Annahme psychologischer Einwir-
kung (der Mensch kannte ja Jesum nicht einmal, V. 13.),
noch irgend welche physische Analogie (wie Magnetismus
u. dergl.) auch nur von ferne hin, sondern wenn dieſs
wirklich erfolgt ist, so müssen wir den, durch welchen es
erfolgte, über alle Grenzen des Menschlichen und Natürli-
chen hinausheben. Dagegen hätte man das, daſs Jesus aus
der Menge von Kranken, welche in den Hallen von Be-
thesda sich befanden, nur diesen einzigen zur Heilung aus-
erkor, niemals bedenklich finden sollen 22), da die Heilung
dessen, der am längsten krank lag, zur Verherrlichung der
messianischen Wunderkraft nicht nur besonders geeignet,
sondern auch hinreichend war. Dennoch knüpft sich an-
drerseits eben an diesen Zug die Vermuthung eines mythi-
schen Charakters der Erzählung. Auf einem groſsen Schau-

21) Bretschneider, Probab. S. 69.
22) Wie Hase, L. J. §. 92.
9 *
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[131/0150] Neuntes Kapitel. §. 95. Was nun die historische Glaubwürdigkeit der Erzäh- lugn betrifft, so kann man es allerdings auffallend finden, daſs einer so groſsartigen Wohlthätigkeitsanstalt, wie Jo- hannes Bethesda beschreibt, weder Josephus noch die Rab- binen Erwähnung thun, zumal, wenn die Volksmeinung an den Teich eine wunderbare Heilkraft knüpfte 21): doch führt dieſs noch keine Entscheidung herbei. Daſs in der Beschreibung des Teiches ein fabelhafter Volksglaube liegt, und vom Referenten acceptirt zu werden scheint (wenn auch V. 4. unächt ist, so liegt jener Glaube doch in der κίνησις τοῦ ὕδατος V. 3. und dem ταραχϑῇ V. 7.), beweist gegen die Wahrheit der Erzählung nichts, da auch ein Augenzeuge und Jünger Jesu den betreffenden Volksglau- ben getheilt haben kann. Daſs nun aber ein seit 38 Jah- ren in der Art gelähmter Mensch, daſs er zum Gehen un- fähig auf einem Bette liegen muſste, durch ein Wort völlig wiederhergestellt worden sein soll, dieſs denkbar zu ma- chen, reicht weder die Annahme psychologischer Einwir- kung (der Mensch kannte ja Jesum nicht einmal, V. 13.), noch irgend welche physische Analogie (wie Magnetismus u. dergl.) auch nur von ferne hin, sondern wenn dieſs wirklich erfolgt ist, so müssen wir den, durch welchen es erfolgte, über alle Grenzen des Menschlichen und Natürli- chen hinausheben. Dagegen hätte man das, daſs Jesus aus der Menge von Kranken, welche in den Hallen von Be- thesda sich befanden, nur diesen einzigen zur Heilung aus- erkor, niemals bedenklich finden sollen 22), da die Heilung dessen, der am längsten krank lag, zur Verherrlichung der messianischen Wunderkraft nicht nur besonders geeignet, sondern auch hinreichend war. Dennoch knüpft sich an- drerseits eben an diesen Zug die Vermuthung eines mythi- schen Charakters der Erzählung. Auf einem groſsen Schau- 21) Bretschneider, Probab. S. 69. 22) Wie Hase, L. J. §. 92. 9 *

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 131. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/150>, abgerufen am 29.04.2024.