Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweiter Abschnitt.
ob es wahrscheinlicher sei, dass der Verfasser sich unge-
nau (vielmehr widersinnig) ausgedrückt, oder dass er eine
Abweichung vom Naturlauf habe erzählen wollen; denn
nur von dem, was er geben will, ist zunächst die Rede:
was wirklich zum Grund gelegen, das ist, selbst nach dem
immerwährenden Paulus'schen Reden von Unterscheidung
des Urtheils vom Faktum, eine ganz andre Frage. Dar-
aus, dass unserer Ansicht zufolge eine Abweichung vom
Naturlauf nicht vorgekommen sein kann, folgt keineswegs,
dass ein Erzähler aus der christlichen Urzeit eine solche
nicht annehmen und berichten konnte 13): um also das
Wunderbare aus dem Wege zu räumen, dürfen wir es
nicht aus dem Bericht hinaus erklären, sondern das müssen
wir versuchen, ob nicht der ganze Bericht aus dem Kreise
des Geschichtlichen auszuschliessen ist. Und in dieser Hin-
sicht hat nun zuvörderst jede unsrer drei Relationen ei-
genthümliche Züge, die in historischer Hinsicht verdächtig
sind.

Am auffallendsten sticht ein solcher Zug bei Markus
hervor, wenn er V. 48. von Jesu sagt, er sei auf dem
Meer gegen die Jünger dahergekommen, kai ethele parelthein
autous, nur ihr angstvolles Rufen habe ihn vermocht, von ihnen
Notiz zu nehmen. Mit Recht deutet Fritzsche diese Stelle
so, dass Markus dadurch anzeigen wolle, Jesus habe im
Sinne gehabt, durch göttliche Kraft unterstüzt, über den
ganzen See, wie über festen Boden, hinüberzugehen. Aber
mit eben so vielem Rechte fragt Paulus: hätte etwas zweck-
loser, abenteuerlicher sein können, als ein so seltsames
Wunder zu thun, ohne dass es gesehen werden sollte?
Nur dass man desswegen nicht mit diesem Ausleger den
Worten des Markus den natürlichen Sinn geben darf, als
hätte Jesus die in der Nähe des Ufers Schiffenden zu Lande
vorübergehen wollen, zumal die wunderhafte Deutung der

13) s. die treffliche Stelle bei Fritzsche, Comm. in Matth. p. 505.

Zweiter Abschnitt.
ob es wahrscheinlicher sei, daſs der Verfasser sich unge-
nau (vielmehr widersinnig) ausgedrückt, oder daſs er eine
Abweichung vom Naturlauf habe erzählen wollen; denn
nur von dem, was er geben will, ist zunächst die Rede:
was wirklich zum Grund gelegen, das ist, selbst nach dem
immerwährenden Paulus'schen Reden von Unterscheidung
des Urtheils vom Faktum, eine ganz andre Frage. Dar-
aus, daſs unserer Ansicht zufolge eine Abweichung vom
Naturlauf nicht vorgekommen sein kann, folgt keineswegs,
daſs ein Erzähler aus der christlichen Urzeit eine solche
nicht annehmen und berichten konnte 13): um also das
Wunderbare aus dem Wege zu räumen, dürfen wir es
nicht aus dem Bericht hinaus erklären, sondern das müssen
wir versuchen, ob nicht der ganze Bericht aus dem Kreise
des Geschichtlichen auszuschlieſsen ist. Und in dieser Hin-
sicht hat nun zuvörderst jede unsrer drei Relationen ei-
genthümliche Züge, die in historischer Hinsicht verdächtig
sind.

Am auffallendsten sticht ein solcher Zug bei Markus
hervor, wenn er V. 48. von Jesu sagt, er sei auf dem
Meer gegen die Jünger dahergekommen, καὶ ἤϑελε παρελϑεῖν
αὐτοὺς, nur ihr angstvolles Rufen habe ihn vermocht, von ihnen
Notiz zu nehmen. Mit Recht deutet Fritzsche diese Stelle
so, daſs Markus dadurch anzeigen wolle, Jesus habe im
Sinne gehabt, durch göttliche Kraft unterstüzt, über den
ganzen See, wie über festen Boden, hinüberzugehen. Aber
mit eben so vielem Rechte fragt Paulus: hätte etwas zweck-
loser, abenteuerlicher sein können, als ein so seltsames
Wunder zu thun, ohne daſs es gesehen werden sollte?
Nur daſs man deſswegen nicht mit diesem Ausleger den
Worten des Markus den natürlichen Sinn geben darf, als
hätte Jesus die in der Nähe des Ufers Schiffenden zu Lande
vorübergehen wollen, zumal die wunderhafte Deutung der

13) s. die treffliche Stelle bei Fritzsche, Comm. in Matth. p. 505.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0203" n="184"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Zweiter Abschnitt</hi>.</fw><lb/>
ob es wahrscheinlicher sei, da&#x017F;s der Verfasser sich unge-<lb/>
nau (vielmehr widersinnig) ausgedrückt, oder da&#x017F;s er eine<lb/>
Abweichung vom Naturlauf habe erzählen wollen; denn<lb/>
nur von dem, was er geben will, ist zunächst die Rede:<lb/>
was wirklich zum Grund gelegen, das ist, selbst nach dem<lb/>
immerwährenden <hi rendition="#k">Paulus</hi>'schen Reden von Unterscheidung<lb/>
des Urtheils vom Faktum, eine ganz andre Frage. Dar-<lb/>
aus, da&#x017F;s unserer Ansicht zufolge eine Abweichung vom<lb/>
Naturlauf nicht vorgekommen sein kann, folgt keineswegs,<lb/>
da&#x017F;s ein Erzähler aus der christlichen Urzeit eine solche<lb/>
nicht annehmen und berichten konnte <note place="foot" n="13)">s. die treffliche Stelle bei <hi rendition="#k">Fritzsche</hi>, Comm. in Matth. p. 505.</note>: um also das<lb/>
Wunderbare aus dem Wege zu räumen, dürfen wir es<lb/>
nicht aus dem Bericht hinaus erklären, sondern das müssen<lb/>
wir versuchen, ob nicht der ganze Bericht aus dem Kreise<lb/>
des Geschichtlichen auszuschlie&#x017F;sen ist. Und in dieser Hin-<lb/>
sicht hat nun zuvörderst jede unsrer drei Relationen ei-<lb/>
genthümliche Züge, die in historischer Hinsicht verdächtig<lb/>
sind.</p><lb/>
          <p>Am auffallendsten sticht ein solcher Zug bei Markus<lb/>
hervor, wenn er V. 48. von Jesu sagt, er sei auf dem<lb/>
Meer gegen die Jünger dahergekommen, &#x03BA;&#x03B1;&#x1F76; &#x1F24;&#x03D1;&#x03B5;&#x03BB;&#x03B5; &#x03C0;&#x03B1;&#x03C1;&#x03B5;&#x03BB;&#x03D1;&#x03B5;&#x1FD6;&#x03BD;<lb/>
&#x03B1;&#x1F50;&#x03C4;&#x03BF;&#x03C5;&#x0340;&#x03C2;, nur ihr angstvolles Rufen habe ihn vermocht, von ihnen<lb/>
Notiz zu nehmen. Mit Recht deutet <hi rendition="#k">Fritzsche</hi> diese Stelle<lb/>
so, da&#x017F;s Markus dadurch anzeigen wolle, Jesus habe im<lb/>
Sinne gehabt, durch göttliche Kraft unterstüzt, über den<lb/>
ganzen See, wie über festen Boden, hinüberzugehen. Aber<lb/>
mit eben so vielem Rechte fragt <hi rendition="#k">Paulus</hi>: hätte etwas zweck-<lb/>
loser, abenteuerlicher sein können, als ein so seltsames<lb/>
Wunder zu thun, ohne da&#x017F;s es gesehen werden sollte?<lb/>
Nur da&#x017F;s man de&#x017F;swegen nicht mit diesem Ausleger den<lb/>
Worten des Markus den natürlichen Sinn geben darf, als<lb/>
hätte Jesus die in der Nähe des Ufers Schiffenden zu Lande<lb/>
vorübergehen wollen, zumal die wunderhafte Deutung der<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[184/0203] Zweiter Abschnitt. ob es wahrscheinlicher sei, daſs der Verfasser sich unge- nau (vielmehr widersinnig) ausgedrückt, oder daſs er eine Abweichung vom Naturlauf habe erzählen wollen; denn nur von dem, was er geben will, ist zunächst die Rede: was wirklich zum Grund gelegen, das ist, selbst nach dem immerwährenden Paulus'schen Reden von Unterscheidung des Urtheils vom Faktum, eine ganz andre Frage. Dar- aus, daſs unserer Ansicht zufolge eine Abweichung vom Naturlauf nicht vorgekommen sein kann, folgt keineswegs, daſs ein Erzähler aus der christlichen Urzeit eine solche nicht annehmen und berichten konnte 13): um also das Wunderbare aus dem Wege zu räumen, dürfen wir es nicht aus dem Bericht hinaus erklären, sondern das müssen wir versuchen, ob nicht der ganze Bericht aus dem Kreise des Geschichtlichen auszuschlieſsen ist. Und in dieser Hin- sicht hat nun zuvörderst jede unsrer drei Relationen ei- genthümliche Züge, die in historischer Hinsicht verdächtig sind. Am auffallendsten sticht ein solcher Zug bei Markus hervor, wenn er V. 48. von Jesu sagt, er sei auf dem Meer gegen die Jünger dahergekommen, καὶ ἤϑελε παρελϑεῖν αὐτοὺς, nur ihr angstvolles Rufen habe ihn vermocht, von ihnen Notiz zu nehmen. Mit Recht deutet Fritzsche diese Stelle so, daſs Markus dadurch anzeigen wolle, Jesus habe im Sinne gehabt, durch göttliche Kraft unterstüzt, über den ganzen See, wie über festen Boden, hinüberzugehen. Aber mit eben so vielem Rechte fragt Paulus: hätte etwas zweck- loser, abenteuerlicher sein können, als ein so seltsames Wunder zu thun, ohne daſs es gesehen werden sollte? Nur daſs man deſswegen nicht mit diesem Ausleger den Worten des Markus den natürlichen Sinn geben darf, als hätte Jesus die in der Nähe des Ufers Schiffenden zu Lande vorübergehen wollen, zumal die wunderhafte Deutung der 13) s. die treffliche Stelle bei Fritzsche, Comm. in Matth. p. 505.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/203
Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/203>, abgerufen am 29.04.2024.