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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Neuntes Kapitel. §. 97.
die Rede ist, doch wohl kein Wandeln am Ufer sein kann,
und wenn dieses nicht, dann auch nicht das wesentlich
ebenso bezeichnete Wandeln Jesu 10).

Aber, wenn Petrus bei seinem peripatein epi ta udata
zu sinken anfieng, könnte da nicht bei ihm sowohl als bei
Jesus an ein Schwimmen auf dem See oder an ein Waten
durch seine Untiefen zu denken sein? Beide Ansichten
sind wirklich aufgestellt worden 11). Allein das Waten
müsste durch peripatein dia t. th. ausgedrückt, um das
Schwimmen zu bezeichnen aber doch irgend einmal in den
parallelen Stellen der uneigentliche Ausdruck mit dem ei-
gentlichen vertauscht sein; abgesehen davon, dass 25--30
Stadien im Sturm zu schwimmen, oder bis gegen die Mitte
des gewiss nicht so weit hinein seichten Sees zu waten,
beides gleich unmöglich sein musste, ferner ein Schwim-
mender nicht leicht für ein Gespenst gehalten werden konn-
te, und endlich die Bitte des Petrus um besondere Erlaub-
niss, es Jesu nachzuthun, und dass er wegen Mangels an
Glauben es nicht vermochte, auf etwas Übernatürliches
hinweist 12).

Das Räsonnement, worauf auch hier die natürliche Ausle-
gungsweise beruht, hat bei dieser Gelegenheit Paulus in
einer Weise ausgesprochen, an welcher der zum Grunde
liegende Irrthum besonders glücklich in die Augen fällt.
Die Frage, sagt er, bleibe in solchen Fällen immer die,
ob die Möglichkeit eines nicht ganz genauen Ausdrucks von
Seiten der Schriftsteller, oder eine Abweichung vom Na-
turlauf das Wahrscheinlichere sei? Man sieht, wie falsch
das Dilemma gestellt ist, da es vielmehr nur heissen sollte,

10) Gegen die höchst gewaltsame Auskunft, welche hier Paulus
traf, s. Storr, Opusc. acad. 3, p. 288.
11) Jene von Bolten, Bericht des Matthäus z. d. St., diese in
Henre's neuem Magazin, 6, 2, S. 327 ff.
12) vgl. Paulus und Fritzsche z. d. St.

Neuntes Kapitel. §. 97.
die Rede ist, doch wohl kein Wandeln am Ufer sein kann,
und wenn dieses nicht, dann auch nicht das wesentlich
ebenso bezeichnete Wandeln Jesu 10).

Aber, wenn Petrus bei seinem περιπατεῖν ἐπὶ τὰ ὕδατα
zu sinken anfieng, könnte da nicht bei ihm sowohl als bei
Jesus an ein Schwimmen auf dem See oder an ein Waten
durch seine Untiefen zu denken sein? Beide Ansichten
sind wirklich aufgestellt worden 11). Allein das Waten
müſste durch περιπατεῖν διὰ τ. ϑ. ausgedrückt, um das
Schwimmen zu bezeichnen aber doch irgend einmal in den
parallelen Stellen der uneigentliche Ausdruck mit dem ei-
gentlichen vertauscht sein; abgesehen davon, daſs 25—30
Stadien im Sturm zu schwimmen, oder bis gegen die Mitte
des gewiſs nicht so weit hinein seichten Sees zu waten,
beides gleich unmöglich sein muſste, ferner ein Schwim-
mender nicht leicht für ein Gespenst gehalten werden konn-
te, und endlich die Bitte des Petrus um besondere Erlaub-
niſs, es Jesu nachzuthun, und daſs er wegen Mangels an
Glauben es nicht vermochte, auf etwas Übernatürliches
hinweist 12).

Das Räsonnement, worauf auch hier die natürliche Ausle-
gungsweise beruht, hat bei dieser Gelegenheit Paulus in
einer Weise ausgesprochen, an welcher der zum Grunde
liegende Irrthum besonders glücklich in die Augen fällt.
Die Frage, sagt er, bleibe in solchen Fällen immer die,
ob die Möglichkeit eines nicht ganz genauen Ausdrucks von
Seiten der Schriftsteller, oder eine Abweichung vom Na-
turlauf das Wahrscheinlichere sei? Man sieht, wie falsch
das Dilemma gestellt ist, da es vielmehr nur heiſsen sollte,

10) Gegen die höchst gewaltsame Auskunft, welche hier Paulus
traf, s. Storr, Opusc. acad. 3, p. 288.
11) Jene von Bolten, Bericht des Matthäus z. d. St., diese in
Henre's neuem Magazin, 6, 2, S. 327 ff.
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[183/0202] Neuntes Kapitel. §. 97. die Rede ist, doch wohl kein Wandeln am Ufer sein kann, und wenn dieses nicht, dann auch nicht das wesentlich ebenso bezeichnete Wandeln Jesu 10). Aber, wenn Petrus bei seinem περιπατεῖν ἐπὶ τὰ ὕδατα zu sinken anfieng, könnte da nicht bei ihm sowohl als bei Jesus an ein Schwimmen auf dem See oder an ein Waten durch seine Untiefen zu denken sein? Beide Ansichten sind wirklich aufgestellt worden 11). Allein das Waten müſste durch περιπατεῖν διὰ τ. ϑ. ausgedrückt, um das Schwimmen zu bezeichnen aber doch irgend einmal in den parallelen Stellen der uneigentliche Ausdruck mit dem ei- gentlichen vertauscht sein; abgesehen davon, daſs 25—30 Stadien im Sturm zu schwimmen, oder bis gegen die Mitte des gewiſs nicht so weit hinein seichten Sees zu waten, beides gleich unmöglich sein muſste, ferner ein Schwim- mender nicht leicht für ein Gespenst gehalten werden konn- te, und endlich die Bitte des Petrus um besondere Erlaub- niſs, es Jesu nachzuthun, und daſs er wegen Mangels an Glauben es nicht vermochte, auf etwas Übernatürliches hinweist 12). Das Räsonnement, worauf auch hier die natürliche Ausle- gungsweise beruht, hat bei dieser Gelegenheit Paulus in einer Weise ausgesprochen, an welcher der zum Grunde liegende Irrthum besonders glücklich in die Augen fällt. Die Frage, sagt er, bleibe in solchen Fällen immer die, ob die Möglichkeit eines nicht ganz genauen Ausdrucks von Seiten der Schriftsteller, oder eine Abweichung vom Na- turlauf das Wahrscheinlichere sei? Man sieht, wie falsch das Dilemma gestellt ist, da es vielmehr nur heiſsen sollte, 10) Gegen die höchst gewaltsame Auskunft, welche hier Paulus traf, s. Storr, Opusc. acad. 3, p. 288. 11) Jene von Bolten, Bericht des Matthäus z. d. St., diese in Henre's neuem Magazin, 6, 2, S. 327 ff. 12) vgl. Paulus und Fritzsche z. d. St.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/202>, abgerufen am 29.04.2024.