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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Zweiter Abschnitt.
wird mit Recht behauptet, dass der Apostel Matthäus un-
möglich einerlei für zweierlei habe aufgreifen, und eine
gar nicht vorgefallene neue Geschichte erzählen können 7):
aber die Wirklichkeit einer doppelten Speisung folgt nur
dann hieraus, wenn man den apostolischen Ursprung des
ersten Evangeliums schon voraussezt, der doch erst zu be-
weisen ist. Wenn ferner Paulus einwirft, die Verdoppe-
lung jenes Faktums wäre ohne allen Vortheil für die Sache
des Evangelisten gewesen, und Olshausen diess näher da-
hin entwickelt, dass die Sage die zweite Speisungsgeschichte
nicht so einfach und nüchtern, wie die erste, gelassen ha-
ben würde: so kann dieses begehrliche Reden, es sei et-
was keine Erdichtung, weil es als solche noch ausge-
schmückter sein müsste, eigentlich geradezu abgewiesen
werden, weil es, jedes bestimmten Massstabs entbehrend,
unter allen Umständen wiederkehren, und am Ende das
Mährchen selbst nicht mährehenhaft genug finden wird;
insbesondre aber hier ist es desswegen völlig leer, weil es
die Erzählung von der ersten Speisung als eine historisch
genaue voraussezt: haben wir in dieser schon ein sagenhaf-
tes Produkt, so braucht sich die Variation davon, die zweite
Speisungsgeschichte, nicht noch durch besondre traditio-
nelle Züge auszuzeichnen. Doch nicht bloss nicht in's Wun-
derbarere ist die Erzählung von der zweiten Speisung ge-
genüber von der ersten ausgeschmückt, sondern, indem
sie, die Menge der Nahrungsmittel vermehrend, die Zahl
der Gesättigten vermindert, verringert sie damit das Wun-
der, und in diesem Antiklimax findet man die sicherste
Bürgschaft für die Wirklichkeit der zweiten Speisung, in-
dem, wer zu der ersten noch eine weitere hinzudichten
wollte, dieselbe wohl auch überboten, und statt der 5000
Menschen nicht 4000, sondern 10,000 gesezt haben würde 8).

7) Paulus, ex. Handb. 2, S. 315. Olshausen, 1, S. 512.
8) Olshausen, S. 513.

Zweiter Abschnitt.
wird mit Recht behauptet, daſs der Apostel Matthäus un-
möglich einerlei für zweierlei habe aufgreifen, und eine
gar nicht vorgefallene neue Geschichte erzählen können 7):
aber die Wirklichkeit einer doppelten Speisung folgt nur
dann hieraus, wenn man den apostolischen Ursprung des
ersten Evangeliums schon voraussezt, der doch erst zu be-
weisen ist. Wenn ferner Paulus einwirft, die Verdoppe-
lung jenes Faktums wäre ohne allen Vortheil für die Sache
des Evangelisten gewesen, und Olshausen dieſs näher da-
hin entwickelt, daſs die Sage die zweite Speisungsgeschichte
nicht so einfach und nüchtern, wie die erste, gelassen ha-
ben würde: so kann dieses begehrliche Reden, es sei et-
was keine Erdichtung, weil es als solche noch ausge-
schmückter sein müſste, eigentlich geradezu abgewiesen
werden, weil es, jedes bestimmten Maſsstabs entbehrend,
unter allen Umständen wiederkehren, und am Ende das
Mährchen selbst nicht mährehenhaft genug finden wird;
insbesondre aber hier ist es deſswegen völlig leer, weil es
die Erzählung von der ersten Speisung als eine historisch
genaue voraussezt: haben wir in dieser schon ein sagenhaf-
tes Produkt, so braucht sich die Variation davon, die zweite
Speisungsgeschichte, nicht noch durch besondre traditio-
nelle Züge auszuzeichnen. Doch nicht bloſs nicht in's Wun-
derbarere ist die Erzählung von der zweiten Speisung ge-
genüber von der ersten ausgeschmückt, sondern, indem
sie, die Menge der Nahrungsmittel vermehrend, die Zahl
der Gesättigten vermindert, verringert sie damit das Wun-
der, und in diesem Antiklimax findet man die sicherste
Bürgschaft für die Wirklichkeit der zweiten Speisung, in-
dem, wer zu der ersten noch eine weitere hinzudichten
wollte, dieselbe wohl auch überboten, und statt der 5000
Menschen nicht 4000, sondern 10,000 gesezt haben würde 8).

7) Paulus, ex. Handb. 2, S. 315. Olshausen, 1, S. 512.
8) Olshausen, S. 513.
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[202/0221] Zweiter Abschnitt. wird mit Recht behauptet, daſs der Apostel Matthäus un- möglich einerlei für zweierlei habe aufgreifen, und eine gar nicht vorgefallene neue Geschichte erzählen können 7): aber die Wirklichkeit einer doppelten Speisung folgt nur dann hieraus, wenn man den apostolischen Ursprung des ersten Evangeliums schon voraussezt, der doch erst zu be- weisen ist. Wenn ferner Paulus einwirft, die Verdoppe- lung jenes Faktums wäre ohne allen Vortheil für die Sache des Evangelisten gewesen, und Olshausen dieſs näher da- hin entwickelt, daſs die Sage die zweite Speisungsgeschichte nicht so einfach und nüchtern, wie die erste, gelassen ha- ben würde: so kann dieses begehrliche Reden, es sei et- was keine Erdichtung, weil es als solche noch ausge- schmückter sein müſste, eigentlich geradezu abgewiesen werden, weil es, jedes bestimmten Maſsstabs entbehrend, unter allen Umständen wiederkehren, und am Ende das Mährchen selbst nicht mährehenhaft genug finden wird; insbesondre aber hier ist es deſswegen völlig leer, weil es die Erzählung von der ersten Speisung als eine historisch genaue voraussezt: haben wir in dieser schon ein sagenhaf- tes Produkt, so braucht sich die Variation davon, die zweite Speisungsgeschichte, nicht noch durch besondre traditio- nelle Züge auszuzeichnen. Doch nicht bloſs nicht in's Wun- derbarere ist die Erzählung von der zweiten Speisung ge- genüber von der ersten ausgeschmückt, sondern, indem sie, die Menge der Nahrungsmittel vermehrend, die Zahl der Gesättigten vermindert, verringert sie damit das Wun- der, und in diesem Antiklimax findet man die sicherste Bürgschaft für die Wirklichkeit der zweiten Speisung, in- dem, wer zu der ersten noch eine weitere hinzudichten wollte, dieselbe wohl auch überboten, und statt der 5000 Menschen nicht 4000, sondern 10,000 gesezt haben würde 8). 7) Paulus, ex. Handb. 2, S. 315. Olshausen, 1, S. 512. 8) Olshausen, S. 513.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/221>, abgerufen am 29.04.2024.