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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Neuntes Kapitel. §. 98.
Auch diese Argumentation beruht auf der unbegründeten
Voraussetzung, dass die erste Speisung historisch sei, wo-
bei Olshausen selbst den Gedanken hat, dass einer wohl
auch die zweite für die historische Grundlage, und die er-
ste für die sagenhafte Zuthat ansehen könnte, und dann
verhielte sich die erdichtete zur wahren, wie gefordert wür-
de, als Steigerung. Wenn er nun aber hiegegen bemerkt,
wie unwahrscheinlich es sei, dass der unlautere Referent
das ächte Faktum als das geringere nachbringe, und das
falsche voranstelle, vielmehr wolle ein solcher die Wahr-
heit überbieten, und stelle desshalb immer das Erdichtete
als das Glänzendere hinten an: so zeigt er damit auf's
Neue, dass er sich auf die mythische Ansicht von den bi-
blischen Erzählungen nicht einmal soweit versteht, als zu
ihrer Beurtheilung nöthig ist. Denn von einem unlauteren
Referenten, welcher absichtlich die wahre Speisungsge-
schichte hätte überbieten wollen, spricht hier Niemand,
und am wenigsten erklärt irgend wer den Matthäus für ei-
nen solchen, sondern, mit vollkommenster Redlichkeit, ist
die Meinung, hatte der eine von 5000, der andre von 4000
Gesättigten geschrieben, ebenso redlich schrieb der erste
Evangelist Beides nach, und eben weil er völlig arg- und
absichtslos zu Werke gieng, kam es ihm auch nicht dar-
auf an, welche von beiden Geschichten voran- oder nach-
stehe, die bedeutendere oder die von minderem Belange, son-
dern er liess sich hierin durch zufällige Umstände, wie dass
er die eine mit Begebenheiten zusammengestellt fand, die ihm
die früheren, die andre mit solchen, die ihm die späteren
schienen, bestimmen. Hiemit haben wir indess bloss das
negative Resultat, dass der doppelten Erzählung der ersten
Evangelien nicht zwei verschiedene Begebenheiten können
zum Grunde gelegen haben: welche, und ob überhaupt
eine von beiden historisch begründet sei, muss Gegenstand
einer eigenen Untersuchung werden.

Wenn, um dem magischen Scheine auszuweichen, wel-

Neuntes Kapitel. §. 98.
Auch diese Argumentation beruht auf der unbegründeten
Voraussetzung, daſs die erste Speisung historisch sei, wo-
bei Olshausen selbst den Gedanken hat, daſs einer wohl
auch die zweite für die historische Grundlage, und die er-
ste für die sagenhafte Zuthat ansehen könnte, und dann
verhielte sich die erdichtete zur wahren, wie gefordert wür-
de, als Steigerung. Wenn er nun aber hiegegen bemerkt,
wie unwahrscheinlich es sei, daſs der unlautere Referent
das ächte Faktum als das geringere nachbringe, und das
falsche voranstelle, vielmehr wolle ein solcher die Wahr-
heit überbieten, und stelle deſshalb immer das Erdichtete
als das Glänzendere hinten an: so zeigt er damit auf's
Neue, daſs er sich auf die mythische Ansicht von den bi-
blischen Erzählungen nicht einmal soweit versteht, als zu
ihrer Beurtheilung nöthig ist. Denn von einem unlauteren
Referenten, welcher absichtlich die wahre Speisungsge-
schichte hätte überbieten wollen, spricht hier Niemand,
und am wenigsten erklärt irgend wer den Matthäus für ei-
nen solchen, sondern, mit vollkommenster Redlichkeit, ist
die Meinung, hatte der eine von 5000, der andre von 4000
Gesättigten geschrieben, ebenso redlich schrieb der erste
Evangelist Beides nach, und eben weil er völlig arg- und
absichtslos zu Werke gieng, kam es ihm auch nicht dar-
auf an, welche von beiden Geschichten voran- oder nach-
stehe, die bedeutendere oder die von minderem Belange, son-
dern er lieſs sich hierin durch zufällige Umstände, wie daſs
er die eine mit Begebenheiten zusammengestellt fand, die ihm
die früheren, die andre mit solchen, die ihm die späteren
schienen, bestimmen. Hiemit haben wir indeſs bloſs das
negative Resultat, daſs der doppelten Erzählung der ersten
Evangelien nicht zwei verschiedene Begebenheiten können
zum Grunde gelegen haben: welche, und ob überhaupt
eine von beiden historisch begründet sei, muſs Gegenstand
einer eigenen Untersuchung werden.

Wenn, um dem magischen Scheine auszuweichen, wel-

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[203/0222] Neuntes Kapitel. §. 98. Auch diese Argumentation beruht auf der unbegründeten Voraussetzung, daſs die erste Speisung historisch sei, wo- bei Olshausen selbst den Gedanken hat, daſs einer wohl auch die zweite für die historische Grundlage, und die er- ste für die sagenhafte Zuthat ansehen könnte, und dann verhielte sich die erdichtete zur wahren, wie gefordert wür- de, als Steigerung. Wenn er nun aber hiegegen bemerkt, wie unwahrscheinlich es sei, daſs der unlautere Referent das ächte Faktum als das geringere nachbringe, und das falsche voranstelle, vielmehr wolle ein solcher die Wahr- heit überbieten, und stelle deſshalb immer das Erdichtete als das Glänzendere hinten an: so zeigt er damit auf's Neue, daſs er sich auf die mythische Ansicht von den bi- blischen Erzählungen nicht einmal soweit versteht, als zu ihrer Beurtheilung nöthig ist. Denn von einem unlauteren Referenten, welcher absichtlich die wahre Speisungsge- schichte hätte überbieten wollen, spricht hier Niemand, und am wenigsten erklärt irgend wer den Matthäus für ei- nen solchen, sondern, mit vollkommenster Redlichkeit, ist die Meinung, hatte der eine von 5000, der andre von 4000 Gesättigten geschrieben, ebenso redlich schrieb der erste Evangelist Beides nach, und eben weil er völlig arg- und absichtslos zu Werke gieng, kam es ihm auch nicht dar- auf an, welche von beiden Geschichten voran- oder nach- stehe, die bedeutendere oder die von minderem Belange, son- dern er lieſs sich hierin durch zufällige Umstände, wie daſs er die eine mit Begebenheiten zusammengestellt fand, die ihm die früheren, die andre mit solchen, die ihm die späteren schienen, bestimmen. Hiemit haben wir indeſs bloſs das negative Resultat, daſs der doppelten Erzählung der ersten Evangelien nicht zwei verschiedene Begebenheiten können zum Grunde gelegen haben: welche, und ob überhaupt eine von beiden historisch begründet sei, muſs Gegenstand einer eigenen Untersuchung werden. Wenn, um dem magischen Scheine auszuweichen, wel-

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 203. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/222>, abgerufen am 28.04.2024.