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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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VII. Versuch. Von der Nothwendigkeit
gegenwärtigen Vorstellungen abgesondert, und zurückge-
halten werden, wenn die letztere noch immer dieselbige
bleiben, die sie vorher waren, und wie läßt sich ein an-
ders Urtheil an die Stelle des gewöhnlichen einschieben?

Jch berufe mich auf innere Beobachtungen, wenn
ich sage, daß solches auf die Art geschicht, die ich hier
angeben will. Wenn wir Vorstellungen von dem Re-
flexionsaktus in uns haben, eben so wohl als von den
Objekten, worüber reflektiret wird, und wenn wir auch
andere Vorstellungen von den entgegengesetzten Denkthä-
tigkeiten besitzen, durch deren Erregung jene zurückblei-
ben müssen; wenn wir von der Vernemung eine Jdee
haben, wie von der Bejahung, von dem Zurückhal-
ten
des Beyfalls und von dem Beystimmen, von dem
Zweifeln so gut, als von dem Entscheiden, so werden
bey der mannigfaltigen Association einer und derselbigen
Vorstellung mit einer Menge anderer, auch Verknü-
pfungen zu Stande kommen können zwischen den Jdeen
von den Objekten, über die man urtheilet, und zwischen
dem Zweifeln, dem Verneinen und dem Bejahen.
Dadurch wird es möglich, daß die Seele von jenen Vor-
stellungen der Dinge, die sie ehemals hatte, zu Vorstel-
lungen und Urtheilsthätigkeiten übergehet, die von de-
nen verschieden sind, welche das erstemal unmittelbar er-
folgten. Laß also die nämlichen Vorstellungen von den
Objekten in uns gegenwärtig seyn; laß mich denselbigen
Tisch sehen, es ist gewiß, daß mir nur deswegen der
Gedanke nicht einfallen dörfe, der Tisch sey ein Ding
außer mir. Es kann mir der Geschmack der Speise ein-
fallen, die darauf gestanden hat, oder die Jdee von dem
Gelde, das auf ihm gezählt worden ist, oder jedwede
andere, die mit jener in der Phantasie associirt ist. Ue-
berfällt mich aber die Reflexion von der objektivischen
Existenz des Tisches, so kann ich doch diese durch die Er-
weckung anderer Jdeen unterdrücken, und sie mir aus

dem

VII. Verſuch. Von der Nothwendigkeit
gegenwaͤrtigen Vorſtellungen abgeſondert, und zuruͤckge-
halten werden, wenn die letztere noch immer dieſelbige
bleiben, die ſie vorher waren, und wie laͤßt ſich ein an-
ders Urtheil an die Stelle des gewoͤhnlichen einſchieben?

Jch berufe mich auf innere Beobachtungen, wenn
ich ſage, daß ſolches auf die Art geſchicht, die ich hier
angeben will. Wenn wir Vorſtellungen von dem Re-
flexionsaktus in uns haben, eben ſo wohl als von den
Objekten, woruͤber reflektiret wird, und wenn wir auch
andere Vorſtellungen von den entgegengeſetzten Denkthaͤ-
tigkeiten beſitzen, durch deren Erregung jene zuruͤckblei-
ben muͤſſen; wenn wir von der Vernemung eine Jdee
haben, wie von der Bejahung, von dem Zuruͤckhal-
ten
des Beyfalls und von dem Beyſtimmen, von dem
Zweifeln ſo gut, als von dem Entſcheiden, ſo werden
bey der mannigfaltigen Aſſociation einer und derſelbigen
Vorſtellung mit einer Menge anderer, auch Verknuͤ-
pfungen zu Stande kommen koͤnnen zwiſchen den Jdeen
von den Objekten, uͤber die man urtheilet, und zwiſchen
dem Zweifeln, dem Verneinen und dem Bejahen.
Dadurch wird es moͤglich, daß die Seele von jenen Vor-
ſtellungen der Dinge, die ſie ehemals hatte, zu Vorſtel-
lungen und Urtheilsthaͤtigkeiten uͤbergehet, die von de-
nen verſchieden ſind, welche das erſtemal unmittelbar er-
folgten. Laß alſo die naͤmlichen Vorſtellungen von den
Objekten in uns gegenwaͤrtig ſeyn; laß mich denſelbigen
Tiſch ſehen, es iſt gewiß, daß mir nur deswegen der
Gedanke nicht einfallen doͤrfe, der Tiſch ſey ein Ding
außer mir. Es kann mir der Geſchmack der Speiſe ein-
fallen, die darauf geſtanden hat, oder die Jdee von dem
Gelde, das auf ihm gezaͤhlt worden iſt, oder jedwede
andere, die mit jener in der Phantaſie aſſociirt iſt. Ue-
berfaͤllt mich aber die Reflexion von der objektiviſchen
Exiſtenz des Tiſches, ſo kann ich doch dieſe durch die Er-
weckung anderer Jdeen unterdruͤcken, und ſie mir aus

dem
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[478/0538] VII. Verſuch. Von der Nothwendigkeit gegenwaͤrtigen Vorſtellungen abgeſondert, und zuruͤckge- halten werden, wenn die letztere noch immer dieſelbige bleiben, die ſie vorher waren, und wie laͤßt ſich ein an- ders Urtheil an die Stelle des gewoͤhnlichen einſchieben? Jch berufe mich auf innere Beobachtungen, wenn ich ſage, daß ſolches auf die Art geſchicht, die ich hier angeben will. Wenn wir Vorſtellungen von dem Re- flexionsaktus in uns haben, eben ſo wohl als von den Objekten, woruͤber reflektiret wird, und wenn wir auch andere Vorſtellungen von den entgegengeſetzten Denkthaͤ- tigkeiten beſitzen, durch deren Erregung jene zuruͤckblei- ben muͤſſen; wenn wir von der Vernemung eine Jdee haben, wie von der Bejahung, von dem Zuruͤckhal- ten des Beyfalls und von dem Beyſtimmen, von dem Zweifeln ſo gut, als von dem Entſcheiden, ſo werden bey der mannigfaltigen Aſſociation einer und derſelbigen Vorſtellung mit einer Menge anderer, auch Verknuͤ- pfungen zu Stande kommen koͤnnen zwiſchen den Jdeen von den Objekten, uͤber die man urtheilet, und zwiſchen dem Zweifeln, dem Verneinen und dem Bejahen. Dadurch wird es moͤglich, daß die Seele von jenen Vor- ſtellungen der Dinge, die ſie ehemals hatte, zu Vorſtel- lungen und Urtheilsthaͤtigkeiten uͤbergehet, die von de- nen verſchieden ſind, welche das erſtemal unmittelbar er- folgten. Laß alſo die naͤmlichen Vorſtellungen von den Objekten in uns gegenwaͤrtig ſeyn; laß mich denſelbigen Tiſch ſehen, es iſt gewiß, daß mir nur deswegen der Gedanke nicht einfallen doͤrfe, der Tiſch ſey ein Ding außer mir. Es kann mir der Geſchmack der Speiſe ein- fallen, die darauf geſtanden hat, oder die Jdee von dem Gelde, das auf ihm gezaͤhlt worden iſt, oder jedwede andere, die mit jener in der Phantaſie aſſociirt iſt. Ue- berfaͤllt mich aber die Reflexion von der objektiviſchen Exiſtenz des Tiſches, ſo kann ich doch dieſe durch die Er- weckung anderer Jdeen unterdruͤcken, und ſie mir aus dem

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 478. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/538>, abgerufen am 27.05.2024.