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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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VII. Versuch. Von der Nothwendigken
stande, aber deßwegen nicht bey dem göttlichen." Denn
hieraus konnten sie die obige Folgerung ziehen. Wenn
es einmal völlig gewiß ist, daß Gott es offenbaret habe,
es sey in einem Fall wahr, daß A nicht A ist, so sind
wir verpflichtet es zu glauben, ob es uns gleich unbe-
greiflich ist. Die Widersprüche sind denn nichts mehr
als andere Unbegreiflichkeiten, die über unserer Ver-
nunft sind.

Es fällt meiner Meinung nach, so gleich auf, daß,
da wir selbst keinen viereckten Zirkel uns vorstellen kön-
nen, es uns auch eben so unmöglich seyn müsse, eine
Jdee von einer Denkkraft zu machen, in der jene Vor-
stellung enthalten sey. Das widersprechende kann sym-
bolisch ausgedruckt; der Satz: A ist nicht A, kann auf
dem Papier geschrieben werden. Aber das, was in die-
sem Ausdruck lieget, ist für uns ungedenkbar, und eben
so unvorstellbar ist uns ein Verstand, der diesen Gedan-
ken haben könne. Ein solcher Verstand ist selbst vor
dem menschlichen, was ein viereckter Zirkel vor ihm ist.
Das Daseyn eines solchen Verstandes muß ich also eben
so nothwendig verneinen, als die Existenz eines wider-
sprechenden Objekts; und jenen für möglich halten, heißt
eben so viel, als die ungedenkbare Sache selbst dafür an-
sehen. Das ist, mit andern Worten, glauben, daß
der Ausdruck, A ist nicht A, vor irgend einem an-
dern Verstande etwas gedenkbares sey, heißt, den
Grundsatz des Widerspruchs aufheben. Dieß Denkge-
setz ist also eben so gewiß nicht allein ein Gesetz vor unse-
rem Verstand, sondern vor jedem andern, und das
Princip des Widerspruchs ist so gewiß ein objektivisches
Princip, als es selbst ein wahres Princip ist. Kann
etwas noch gewisser seyn?

Hr. Lossius drückt sich in der schon angeführten
Schrift *) so aus, daß man glauben muß, er habe sei-

ne
*) S. 56.

VII. Verſuch. Von der Nothwendigken
ſtande, aber deßwegen nicht bey dem goͤttlichen.‟ Denn
hieraus konnten ſie die obige Folgerung ziehen. Wenn
es einmal voͤllig gewiß iſt, daß Gott es offenbaret habe,
es ſey in einem Fall wahr, daß A nicht A iſt, ſo ſind
wir verpflichtet es zu glauben, ob es uns gleich unbe-
greiflich iſt. Die Widerſpruͤche ſind denn nichts mehr
als andere Unbegreiflichkeiten, die uͤber unſerer Ver-
nunft ſind.

Es faͤllt meiner Meinung nach, ſo gleich auf, daß,
da wir ſelbſt keinen viereckten Zirkel uns vorſtellen koͤn-
nen, es uns auch eben ſo unmoͤglich ſeyn muͤſſe, eine
Jdee von einer Denkkraft zu machen, in der jene Vor-
ſtellung enthalten ſey. Das widerſprechende kann ſym-
boliſch ausgedruckt; der Satz: A iſt nicht A, kann auf
dem Papier geſchrieben werden. Aber das, was in die-
ſem Ausdruck lieget, iſt fuͤr uns ungedenkbar, und eben
ſo unvorſtellbar iſt uns ein Verſtand, der dieſen Gedan-
ken haben koͤnne. Ein ſolcher Verſtand iſt ſelbſt vor
dem menſchlichen, was ein viereckter Zirkel vor ihm iſt.
Das Daſeyn eines ſolchen Verſtandes muß ich alſo eben
ſo nothwendig verneinen, als die Exiſtenz eines wider-
ſprechenden Objekts; und jenen fuͤr moͤglich halten, heißt
eben ſo viel, als die ungedenkbare Sache ſelbſt dafuͤr an-
ſehen. Das iſt, mit andern Worten, glauben, daß
der Ausdruck, A iſt nicht A, vor irgend einem an-
dern Verſtande etwas gedenkbares ſey, heißt, den
Grundſatz des Widerſpruchs aufheben. Dieß Denkge-
ſetz iſt alſo eben ſo gewiß nicht allein ein Geſetz vor unſe-
rem Verſtand, ſondern vor jedem andern, und das
Princip des Widerſpruchs iſt ſo gewiß ein objektiviſches
Princip, als es ſelbſt ein wahres Princip iſt. Kann
etwas noch gewiſſer ſeyn?

Hr. Loſſius druͤckt ſich in der ſchon angefuͤhrten
Schrift *) ſo aus, daß man glauben muß, er habe ſei-

ne
*) S. 56.
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[542/0602] VII. Verſuch. Von der Nothwendigken ſtande, aber deßwegen nicht bey dem goͤttlichen.‟ Denn hieraus konnten ſie die obige Folgerung ziehen. Wenn es einmal voͤllig gewiß iſt, daß Gott es offenbaret habe, es ſey in einem Fall wahr, daß A nicht A iſt, ſo ſind wir verpflichtet es zu glauben, ob es uns gleich unbe- greiflich iſt. Die Widerſpruͤche ſind denn nichts mehr als andere Unbegreiflichkeiten, die uͤber unſerer Ver- nunft ſind. Es faͤllt meiner Meinung nach, ſo gleich auf, daß, da wir ſelbſt keinen viereckten Zirkel uns vorſtellen koͤn- nen, es uns auch eben ſo unmoͤglich ſeyn muͤſſe, eine Jdee von einer Denkkraft zu machen, in der jene Vor- ſtellung enthalten ſey. Das widerſprechende kann ſym- boliſch ausgedruckt; der Satz: A iſt nicht A, kann auf dem Papier geſchrieben werden. Aber das, was in die- ſem Ausdruck lieget, iſt fuͤr uns ungedenkbar, und eben ſo unvorſtellbar iſt uns ein Verſtand, der dieſen Gedan- ken haben koͤnne. Ein ſolcher Verſtand iſt ſelbſt vor dem menſchlichen, was ein viereckter Zirkel vor ihm iſt. Das Daſeyn eines ſolchen Verſtandes muß ich alſo eben ſo nothwendig verneinen, als die Exiſtenz eines wider- ſprechenden Objekts; und jenen fuͤr moͤglich halten, heißt eben ſo viel, als die ungedenkbare Sache ſelbſt dafuͤr an- ſehen. Das iſt, mit andern Worten, glauben, daß der Ausdruck, A iſt nicht A, vor irgend einem an- dern Verſtande etwas gedenkbares ſey, heißt, den Grundſatz des Widerſpruchs aufheben. Dieß Denkge- ſetz iſt alſo eben ſo gewiß nicht allein ein Geſetz vor unſe- rem Verſtand, ſondern vor jedem andern, und das Princip des Widerſpruchs iſt ſo gewiß ein objektiviſches Princip, als es ſelbſt ein wahres Princip iſt. Kann etwas noch gewiſſer ſeyn? Hr. Loſſius druͤckt ſich in der ſchon angefuͤhrten Schrift *) ſo aus, daß man glauben muß, er habe ſei- ne *) S. 56.

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 542. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/602>, abgerufen am 14.05.2024.