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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795.

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tausend Vorurtheile in mir aufwuchsen und fe-
ste Wurzel schlugen, die ganze Welt umher war
nur ein Spiegel, in dem ich meine eigene Ge-
stalt wiederfand. Unter allen meinen Bekann-
ten zog mich keiner so an, als der junge Bur-
ton, der damahls zwanzig Jahr alt war, nur
wenig älter als ich selbst, unsre Bekanntschaft
ward bald die vertrauteste Freundschaft: eine
Freundschaft, wie gewöhnlich die erste unter
fühlenden Jünglingen geknüpft zu werden pflegt,
nach meiner Meinung für die Ewigkeit. Damon
und Pylades waren mir noch zu geringe Ideale,
meine erhitzte Phantasie versprach für den
Freund alles zu thun, so wie sie jedes Opfer
von ihm verlangte. In diesen Jahren giebt
man sich nicht die Mühe, den Charakter des
Freundes zu beobachten, oder man hat vielmehr
nicht die Fähigkeit, dies zu thun; man glaubt
sich selbst zu kennen und folglich auch den
Freund, man trägt alles aus sich in ihn hin-
über und das geblendete Auge findet auch in
den beiden Charakteren die täuschendste Aehn-
lichkeit. -- Eine solche Freundschaft dauert sel-
ten über die ersten Jünglingsjahre hinaus; es
kommt bei den meisten Menschen doch bald eine

tauſend Vorurtheile in mir aufwuchſen und fe-
ſte Wurzel ſchlugen, die ganze Welt umher war
nur ein Spiegel, in dem ich meine eigene Ge-
ſtalt wiederfand. Unter allen meinen Bekann-
ten zog mich keiner ſo an, als der junge Bur-
ton, der damahls zwanzig Jahr alt war, nur
wenig aͤlter als ich ſelbſt, unſre Bekanntſchaft
ward bald die vertrauteſte Freundſchaft: eine
Freundſchaft, wie gewoͤhnlich die erſte unter
fuͤhlenden Juͤnglingen geknuͤpft zu werden pflegt,
nach meiner Meinung fuͤr die Ewigkeit. Damon
und Pylades waren mir noch zu geringe Ideale,
meine erhitzte Phantaſie verſprach fuͤr den
Freund alles zu thun, ſo wie ſie jedes Opfer
von ihm verlangte. In dieſen Jahren giebt
man ſich nicht die Muͤhe, den Charakter des
Freundes zu beobachten, oder man hat vielmehr
nicht die Faͤhigkeit, dies zu thun; man glaubt
ſich ſelbſt zu kennen und folglich auch den
Freund, man traͤgt alles aus ſich in ihn hin-
uͤber und das geblendete Auge findet auch in
den beiden Charakteren die taͤuſchendſte Aehn-
lichkeit. — Eine ſolche Freundſchaft dauert ſel-
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[247[245]/0255] tauſend Vorurtheile in mir aufwuchſen und fe- ſte Wurzel ſchlugen, die ganze Welt umher war nur ein Spiegel, in dem ich meine eigene Ge- ſtalt wiederfand. Unter allen meinen Bekann- ten zog mich keiner ſo an, als der junge Bur- ton, der damahls zwanzig Jahr alt war, nur wenig aͤlter als ich ſelbſt, unſre Bekanntſchaft ward bald die vertrauteſte Freundſchaft: eine Freundſchaft, wie gewoͤhnlich die erſte unter fuͤhlenden Juͤnglingen geknuͤpft zu werden pflegt, nach meiner Meinung fuͤr die Ewigkeit. Damon und Pylades waren mir noch zu geringe Ideale, meine erhitzte Phantaſie verſprach fuͤr den Freund alles zu thun, ſo wie ſie jedes Opfer von ihm verlangte. In dieſen Jahren giebt man ſich nicht die Muͤhe, den Charakter des Freundes zu beobachten, oder man hat vielmehr nicht die Faͤhigkeit, dies zu thun; man glaubt ſich ſelbſt zu kennen und folglich auch den Freund, man traͤgt alles aus ſich in ihn hin- uͤber und das geblendete Auge findet auch in den beiden Charakteren die taͤuſchendſte Aehn- lichkeit. — Eine ſolche Freundſchaft dauert ſel- ten uͤber die erſten Juͤnglingsjahre hinaus; es kommt bei den meiſten Menſchen doch bald eine

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795, S. 247[245]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795/255>, abgerufen am 26.04.2024.