Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795.

Bild:
<< vorherige Seite

komm, vielleicht kannst Du mich trösten. --
Wenn ich nach und nach der Welt wie ein ver-
dorrter Baum absterbe, so möcht' ich gern in
den Armen eines Freundes verscheiden; wenn
Du der bist, so laß mich nicht zu lange nach
Deiner Gegenwart schmachten.

Shakespears Hamlet ist meine tägliche Lek-
türe; es ist eine Art von Erquickung, die treue
Schilderung meines Seelenzustandes von diesem
großen Geiste dargestellt zu lesen; jedes Wort,
jede Idee ist aus meiner Seele hervorgeholt;
wer diesen Charakter je unnatürlich oder inkon-
sequent fand, hat den Menschen wahrlich wenig
gekannt. Es ist die Ausgabe, William, die Du
mir in Paris schenktest, und die von Dir ange-
strichenen Stellen kann ich fast alle auswendig.
-- Ich werde dies Meisterstück aber doch auf
einige Zeit beiseite legen müssen, denn meine
Phantasie wird dadurch zu sehr gespannt.

Oder war es mehr als Phantasie, was mich
in der gestrigen Mitternacht so sehr erschreckte?
-- Wenn es etwas mehr wäre! -- Und doch
kann es nicht seyn. -- Wer will aber gegen die
Möglichkeit streiten? -- Welcher Sterbliche
wagt es, die Gränze zu ziehn, wo die Wirk

komm, vielleicht kannſt Du mich troͤſten. —
Wenn ich nach und nach der Welt wie ein ver-
dorrter Baum abſterbe, ſo moͤcht’ ich gern in
den Armen eines Freundes verſcheiden; wenn
Du der biſt, ſo laß mich nicht zu lange nach
Deiner Gegenwart ſchmachten.

Shakeſpears Hamlet iſt meine taͤgliche Lek-
tuͤre; es iſt eine Art von Erquickung, die treue
Schilderung meines Seelenzuſtandes von dieſem
großen Geiſte dargeſtellt zu leſen; jedes Wort,
jede Idee iſt aus meiner Seele hervorgeholt;
wer dieſen Charakter je unnatuͤrlich oder inkon-
ſequent fand, hat den Menſchen wahrlich wenig
gekannt. Es iſt die Ausgabe, William, die Du
mir in Paris ſchenkteſt, und die von Dir ange-
ſtrichenen Stellen kann ich faſt alle auswendig.
— Ich werde dies Meiſterſtuͤck aber doch auf
einige Zeit beiſeite legen muͤſſen, denn meine
Phantaſie wird dadurch zu ſehr geſpannt.

Oder war es mehr als Phantaſie, was mich
in der geſtrigen Mitternacht ſo ſehr erſchreckte?
— Wenn es etwas mehr waͤre! — Und doch
kann es nicht ſeyn. — Wer will aber gegen die
Moͤglichkeit ſtreiten? — Welcher Sterbliche
wagt es, die Graͤnze zu ziehn, wo die Wirk

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0316" n="308[306]"/>
komm, vielleicht kann&#x017F;t Du mich tro&#x0364;&#x017F;ten. &#x2014;<lb/>
Wenn ich nach und nach der Welt wie ein ver-<lb/>
dorrter Baum ab&#x017F;terbe, &#x017F;o mo&#x0364;cht&#x2019; ich gern in<lb/>
den Armen eines Freundes ver&#x017F;cheiden; wenn<lb/>
Du der bi&#x017F;t, &#x017F;o laß mich nicht zu lange nach<lb/>
Deiner Gegenwart &#x017F;chmachten.</p><lb/>
          <p>Shake&#x017F;pears Hamlet i&#x017F;t meine ta&#x0364;gliche Lek-<lb/>
tu&#x0364;re; es i&#x017F;t eine Art von Erquickung, die treue<lb/>
Schilderung meines Seelenzu&#x017F;tandes von die&#x017F;em<lb/>
großen Gei&#x017F;te darge&#x017F;tellt zu le&#x017F;en; jedes Wort,<lb/>
jede Idee i&#x017F;t aus meiner Seele hervorgeholt;<lb/>
wer die&#x017F;en Charakter je unnatu&#x0364;rlich oder inkon-<lb/>
&#x017F;equent fand, hat den Men&#x017F;chen wahrlich wenig<lb/>
gekannt. Es i&#x017F;t die Ausgabe, William, die Du<lb/>
mir in Paris &#x017F;chenkte&#x017F;t, und die von Dir ange-<lb/>
&#x017F;trichenen Stellen kann ich fa&#x017F;t alle auswendig.<lb/>
&#x2014; Ich werde dies Mei&#x017F;ter&#x017F;tu&#x0364;ck aber doch auf<lb/>
einige Zeit bei&#x017F;eite legen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, denn meine<lb/>
Phanta&#x017F;ie wird dadurch zu &#x017F;ehr ge&#x017F;pannt.</p><lb/>
          <p>Oder war es mehr als Phanta&#x017F;ie, was mich<lb/>
in der ge&#x017F;trigen Mitternacht &#x017F;o &#x017F;ehr er&#x017F;chreckte?<lb/>
&#x2014; Wenn es etwas mehr wa&#x0364;re! &#x2014; Und doch<lb/>
kann es nicht &#x017F;eyn. &#x2014; Wer will aber gegen die<lb/>
Mo&#x0364;glichkeit &#x017F;treiten? &#x2014; Welcher Sterbliche<lb/>
wagt es, die Gra&#x0364;nze zu ziehn, wo die Wirk<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[308[306]/0316] komm, vielleicht kannſt Du mich troͤſten. — Wenn ich nach und nach der Welt wie ein ver- dorrter Baum abſterbe, ſo moͤcht’ ich gern in den Armen eines Freundes verſcheiden; wenn Du der biſt, ſo laß mich nicht zu lange nach Deiner Gegenwart ſchmachten. Shakeſpears Hamlet iſt meine taͤgliche Lek- tuͤre; es iſt eine Art von Erquickung, die treue Schilderung meines Seelenzuſtandes von dieſem großen Geiſte dargeſtellt zu leſen; jedes Wort, jede Idee iſt aus meiner Seele hervorgeholt; wer dieſen Charakter je unnatuͤrlich oder inkon- ſequent fand, hat den Menſchen wahrlich wenig gekannt. Es iſt die Ausgabe, William, die Du mir in Paris ſchenkteſt, und die von Dir ange- ſtrichenen Stellen kann ich faſt alle auswendig. — Ich werde dies Meiſterſtuͤck aber doch auf einige Zeit beiſeite legen muͤſſen, denn meine Phantaſie wird dadurch zu ſehr geſpannt. Oder war es mehr als Phantaſie, was mich in der geſtrigen Mitternacht ſo ſehr erſchreckte? — Wenn es etwas mehr waͤre! — Und doch kann es nicht ſeyn. — Wer will aber gegen die Moͤglichkeit ſtreiten? — Welcher Sterbliche wagt es, die Graͤnze zu ziehn, wo die Wirk

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795/316
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795, S. 308[306]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795/316>, abgerufen am 26.04.2024.