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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796.

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Neulich war ich in der höchsten Verwirrung;
sie hatte eines von den neuern Liedern gehört,
und spielte es mir in ihrer Unbefangenheit am
Abende vor, weil es ihr so passend auf mich
schien. Fühlen Sie, wie mir zu Muthe ward,
wie gedemüthigt. Es war wirklich das Lied,
welches mich durch einen Zufall zuerst auf die
Idee meiner Verkleidung führte, und aus dem
ich sogar meinen Nahmen Anthonio entlehnt
habe. Kann die bitterste Satyre mich tiefer er-
niedrigen, als dieses kindliche, fromme, un-
schuldige Wesen? Nie hab ich vor einem Men-
schen so in aller Nacktheit gestanden, nie bin
ich so durch und durch beschämt worden. Bey
jedem andern Mädchen würd' ich überzeugt seyn,
sie habe mich vollkommen errathen; allein ich
schwöre Ihnen, daß es hier nicht der Fall ist.

Und was ist denn nun von einer andern Sei-
te mein ganzes ängstliches Gefühl? Wozu alle
diese seltsamen Windungen? Ich liebe sie, und
sie liebt mich. Ich kann ja kein Glück eines
fremden Wesens berechnen, oder mir vorstellen;
folglich ist das Aufsuchen meines eigenen Glücks
die einzige Regel, die wir in diesem Leben an-
wenden können. Ich glaube, das Mißvergnü-

Neulich war ich in der hoͤchſten Verwirrung;
ſie hatte eines von den neuern Liedern gehoͤrt,
und ſpielte es mir in ihrer Unbefangenheit am
Abende vor, weil es ihr ſo paſſend auf mich
ſchien. Fuͤhlen Sie, wie mir zu Muthe ward,
wie gedemuͤthigt. Es war wirklich das Lied,
welches mich durch einen Zufall zuerſt auf die
Idee meiner Verkleidung fuͤhrte, und aus dem
ich ſogar meinen Nahmen Anthonio entlehnt
habe. Kann die bitterſte Satyre mich tiefer er-
niedrigen, als dieſes kindliche, fromme, un-
ſchuldige Weſen? Nie hab ich vor einem Men-
ſchen ſo in aller Nacktheit geſtanden, nie bin
ich ſo durch und durch beſchaͤmt worden. Bey
jedem andern Maͤdchen wuͤrd’ ich uͤberzeugt ſeyn,
ſie habe mich vollkommen errathen; allein ich
ſchwoͤre Ihnen, daß es hier nicht der Fall iſt.

Und was iſt denn nun von einer andern Sei-
te mein ganzes aͤngſtliches Gefuͤhl? Wozu alle
dieſe ſeltſamen Windungen? Ich liebe ſie, und
ſie liebt mich. Ich kann ja kein Gluͤck eines
fremden Weſens berechnen, oder mir vorſtellen;
folglich iſt das Aufſuchen meines eigenen Gluͤcks
die einzige Regel, die wir in dieſem Leben an-
wenden koͤnnen. Ich glaube, das Mißvergnuͤ-

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[156/0162] Neulich war ich in der hoͤchſten Verwirrung; ſie hatte eines von den neuern Liedern gehoͤrt, und ſpielte es mir in ihrer Unbefangenheit am Abende vor, weil es ihr ſo paſſend auf mich ſchien. Fuͤhlen Sie, wie mir zu Muthe ward, wie gedemuͤthigt. Es war wirklich das Lied, welches mich durch einen Zufall zuerſt auf die Idee meiner Verkleidung fuͤhrte, und aus dem ich ſogar meinen Nahmen Anthonio entlehnt habe. Kann die bitterſte Satyre mich tiefer er- niedrigen, als dieſes kindliche, fromme, un- ſchuldige Weſen? Nie hab ich vor einem Men- ſchen ſo in aller Nacktheit geſtanden, nie bin ich ſo durch und durch beſchaͤmt worden. Bey jedem andern Maͤdchen wuͤrd’ ich uͤberzeugt ſeyn, ſie habe mich vollkommen errathen; allein ich ſchwoͤre Ihnen, daß es hier nicht der Fall iſt. Und was iſt denn nun von einer andern Sei- te mein ganzes aͤngſtliches Gefuͤhl? Wozu alle dieſe ſeltſamen Windungen? Ich liebe ſie, und ſie liebt mich. Ich kann ja kein Gluͤck eines fremden Weſens berechnen, oder mir vorſtellen; folglich iſt das Aufſuchen meines eigenen Gluͤcks die einzige Regel, die wir in dieſem Leben an- wenden koͤnnen. Ich glaube, das Mißvergnuͤ-

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/162>, abgerufen am 28.04.2024.