Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

ich sie zuerst gesehn hatte, kamen mir nun al-
bern vor, es war mir, als hätte ich nur vor
mir selber affektirt. -- Ich reiste ab, und ein
Zufall, oder eine seltsame Laune, verschlug
mich nach Genua.

Ich labte mich hier am Anblicke des großen
allmächtigen Meeres. Mein Geist ward in mir
größer und ich fühlte mich einmal wieder über
die Menschen und über die Natur hinausragen.
Die unübersehliche F[l]äche redete mich erhaben
an und ich antwortete ihr innerlich mit be-
stimmter Kühnheit. Alle meine Sorgen, die
mich sonst so schwer drückten, waren hinwegge-
flogen, und ich war frey und unbeängstigt.
Aber Wolken stiegen am fernen Horizonte auf
und mit ihnen trübe Zweifel in meiner Seele,
alles stand wieder still, die Uhr zeigte wieder
jene traurige, schwarze Stunde, -- ich ward
mir selbst wie ein entsprungener Gefangener zu-
rückgegeben. O über den verhaßten Wechsel in
unserm Innern!

Ich ging an einem Morgen durch eine ein-
same Straße, und hinter einem vergitterten
Fenster glaubte ich Balders Gesicht zu sehn.
Ich erstaunte, ich erkundigte mich unten im

ich ſie zuerſt geſehn hatte, kamen mir nun al-
bern vor, es war mir, als haͤtte ich nur vor
mir ſelber affektirt. — Ich reiſte ab, und ein
Zufall, oder eine ſeltſame Laune, verſchlug
mich nach Genua.

Ich labte mich hier am Anblicke des großen
allmaͤchtigen Meeres. Mein Geiſt ward in mir
groͤßer und ich fuͤhlte mich einmal wieder uͤber
die Menſchen und uͤber die Natur hinausragen.
Die unuͤberſehliche F[l]aͤche redete mich erhaben
an und ich antwortete ihr innerlich mit be-
ſtimmter Kuͤhnheit. Alle meine Sorgen, die
mich ſonſt ſo ſchwer druͤckten, waren hinwegge-
flogen, und ich war frey und unbeaͤngſtigt.
Aber Wolken ſtiegen am fernen Horizonte auf
und mit ihnen truͤbe Zweifel in meiner Seele,
alles ſtand wieder ſtill, die Uhr zeigte wieder
jene traurige, ſchwarze Stunde, — ich ward
mir ſelbſt wie ein entſprungener Gefangener zu-
ruͤckgegeben. O uͤber den verhaßten Wechſel in
unſerm Innern!

Ich ging an einem Morgen durch eine ein-
ſame Straße, und hinter einem vergitterten
Fenſter glaubte ich Balders Geſicht zu ſehn.
Ich erſtaunte, ich erkundigte mich unten im

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0353" n="346"/>
ich &#x017F;ie zuer&#x017F;t ge&#x017F;ehn hatte, kamen mir nun al-<lb/>
bern vor, es war mir, als ha&#x0364;tte ich nur vor<lb/>
mir &#x017F;elber affektirt. &#x2014; Ich rei&#x017F;te ab, und ein<lb/>
Zufall, oder eine &#x017F;elt&#x017F;ame Laune, ver&#x017F;chlug<lb/>
mich nach <hi rendition="#g">Genua</hi>.</p><lb/>
          <p>Ich labte mich hier am Anblicke des großen<lb/>
allma&#x0364;chtigen Meeres. Mein Gei&#x017F;t ward in mir<lb/>
gro&#x0364;ßer und ich fu&#x0364;hlte mich einmal wieder u&#x0364;ber<lb/>
die Men&#x017F;chen und u&#x0364;ber die Natur hinausragen.<lb/>
Die unu&#x0364;ber&#x017F;ehliche F<supplied>l</supplied>a&#x0364;che redete mich erhaben<lb/>
an und ich antwortete ihr innerlich mit be-<lb/>
&#x017F;timmter Ku&#x0364;hnheit. Alle meine Sorgen, die<lb/>
mich &#x017F;on&#x017F;t &#x017F;o &#x017F;chwer dru&#x0364;ckten, waren hinwegge-<lb/>
flogen, und ich war frey und unbea&#x0364;ng&#x017F;tigt.<lb/>
Aber Wolken &#x017F;tiegen am fernen Horizonte auf<lb/>
und mit ihnen tru&#x0364;be Zweifel in meiner Seele,<lb/>
alles &#x017F;tand wieder &#x017F;till, die Uhr zeigte wieder<lb/>
jene traurige, &#x017F;chwarze Stunde, &#x2014; ich ward<lb/>
mir &#x017F;elb&#x017F;t wie ein ent&#x017F;prungener Gefangener zu-<lb/>
ru&#x0364;ckgegeben. O u&#x0364;ber den verhaßten Wech&#x017F;el in<lb/>
un&#x017F;erm Innern!</p><lb/>
          <p>Ich ging an einem Morgen durch eine ein-<lb/>
&#x017F;ame Straße, und hinter einem vergitterten<lb/>
Fen&#x017F;ter glaubte ich <hi rendition="#g">Balders</hi> Ge&#x017F;icht zu &#x017F;ehn.<lb/>
Ich er&#x017F;taunte, ich erkundigte mich unten im<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[346/0353] ich ſie zuerſt geſehn hatte, kamen mir nun al- bern vor, es war mir, als haͤtte ich nur vor mir ſelber affektirt. — Ich reiſte ab, und ein Zufall, oder eine ſeltſame Laune, verſchlug mich nach Genua. Ich labte mich hier am Anblicke des großen allmaͤchtigen Meeres. Mein Geiſt ward in mir groͤßer und ich fuͤhlte mich einmal wieder uͤber die Menſchen und uͤber die Natur hinausragen. Die unuͤberſehliche Flaͤche redete mich erhaben an und ich antwortete ihr innerlich mit be- ſtimmter Kuͤhnheit. Alle meine Sorgen, die mich ſonſt ſo ſchwer druͤckten, waren hinwegge- flogen, und ich war frey und unbeaͤngſtigt. Aber Wolken ſtiegen am fernen Horizonte auf und mit ihnen truͤbe Zweifel in meiner Seele, alles ſtand wieder ſtill, die Uhr zeigte wieder jene traurige, ſchwarze Stunde, — ich ward mir ſelbſt wie ein entſprungener Gefangener zu- ruͤckgegeben. O uͤber den verhaßten Wechſel in unſerm Innern! Ich ging an einem Morgen durch eine ein- ſame Straße, und hinter einem vergitterten Fenſter glaubte ich Balders Geſicht zu ſehn. Ich erſtaunte, ich erkundigte mich unten im

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796/353
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796, S. 346. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796/353>, abgerufen am 01.05.2024.