Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweite Verfassungsänderung.
formvorschlägen im Landtage geschlossen widersprach. Ihren Einflüsterun-
gen gelang es, den Grafen Münster gegen Rehberg einzunehmen, der
schon als Bürgerlicher verdächtig, bald als Liberaler verlästert wurde, weil
er doch einige behutsame Verbesserungen der bestehenden Mißbräuche
wünschte. Im Jahre 1819, noch vor den Karlsbader Beschlüssen, trat
Rehberg tief gekränkt zurück, und fortan wurde Hannover von London
aus regiert. Den Minister v. Bremer und die anderen Geheimen Räthe
in Hannover behandelte Münster als Subalterne; auch der neue Cabinets-
rath Rose gewann, obwohl man seine Geschäftstüchtigkeit gern benutzte, keinen
entscheidenden Einfluß. Die Beamten gewöhnten sich bald, über die Schul-
tern des Ministeriums hinweg unmittelbar an die Deutsche Canzlei in
London zu berichten.

Die erste That der Selbstherrschaft Münster's war eine neue Ver-
fassungsänderung. Das neue Königreich bestand noch nicht fünf Jahre,
und schon wurden die Grundlagen seines Staatsrechts zum zweiten male,
und diesmal ohne zwingende Noth, durch die Krone eigenmächtig umge-
staltet. Ohne Zweifel beabsichtigte Münster keine Rechtsverletzung, stand
er doch selber als Erblandmarschall an der Spitze der Stände; er hielt
es nur in seinem staatsmännischen Dünkel nicht für nöthig, sich über die
Rechtsfrage zu unterrichten. Zwei königliche Rescripte schlugen dem Landtage
eine Neugestaltung der Allgemeinen Ständeversammlung vor. Die Krone
wünschte das Zweikammersystem einzuführen, das neuerdings an den Höfen
als ein Bollwerk der Ordnung betrachtet wurde und im adlichen Han-
noverlande vollends unentbehrlich erschien; dafür wollte sie den freien
Bauern in der zweiten Kammer eine stärkere Vertretung gewähren. Da
der Landtag zwar von der Bildung zweier Kammern abrieth, aber keinen
förmlichen Einspruch erhob, so ging die Regierung über seine Bedenken
hinweg, und sie theilte ihre Entscheidung nicht einmal den Allgemeinen
Ständen selber mit, sondern den Provinziallandtagen. Diese Körper-
schaften, von denen Niemand wußte, wie weit sie in allgemeinen Landes-
angelegenheiten mitzureden hatten, wurden also stillschweigend dem Allge-
meinen Landtage gleichgestellt: so unsicher war das Recht in diesem alt-
historischen Gemeinwesen.

Ein königliches Patent vom 7. December 1819 bestimmte nunmehr
die endgiltige Zusammensetzung des Landtags. In der neuen ersten
Kammer saßen außer einigen Prälaten nur die Standesherren und die
Abgeordneten der Ritterschaft. Da der welfische Adel niemals einen bür-
gerlichen Rittergutsbesitzer wählte, so war hier das adliche Standesinteresse
so einseitig und ausschließlich vertreten wie in keinem anderen deutschen
Oberhause. In der zweiten Kammer sollten auch zwanzig Vertreter des
freien bäuerlichen Grundbesitzes tagen; doch währte es noch zehn Jahre bis
diese langsame Regierung sich zur Einberufung der Bauern entschloß. Die
Ostfriesen protestirten, die Vertreter ihres dritten Standes blieben dem Land-

Zweite Verfaſſungsänderung.
formvorſchlägen im Landtage geſchloſſen widerſprach. Ihren Einflüſterun-
gen gelang es, den Grafen Münſter gegen Rehberg einzunehmen, der
ſchon als Bürgerlicher verdächtig, bald als Liberaler verläſtert wurde, weil
er doch einige behutſame Verbeſſerungen der beſtehenden Mißbräuche
wünſchte. Im Jahre 1819, noch vor den Karlsbader Beſchlüſſen, trat
Rehberg tief gekränkt zurück, und fortan wurde Hannover von London
aus regiert. Den Miniſter v. Bremer und die anderen Geheimen Räthe
in Hannover behandelte Münſter als Subalterne; auch der neue Cabinets-
rath Roſe gewann, obwohl man ſeine Geſchäftstüchtigkeit gern benutzte, keinen
entſcheidenden Einfluß. Die Beamten gewöhnten ſich bald, über die Schul-
tern des Miniſteriums hinweg unmittelbar an die Deutſche Canzlei in
London zu berichten.

Die erſte That der Selbſtherrſchaft Münſter’s war eine neue Ver-
faſſungsänderung. Das neue Königreich beſtand noch nicht fünf Jahre,
und ſchon wurden die Grundlagen ſeines Staatsrechts zum zweiten male,
und diesmal ohne zwingende Noth, durch die Krone eigenmächtig umge-
ſtaltet. Ohne Zweifel beabſichtigte Münſter keine Rechtsverletzung, ſtand
er doch ſelber als Erblandmarſchall an der Spitze der Stände; er hielt
es nur in ſeinem ſtaatsmänniſchen Dünkel nicht für nöthig, ſich über die
Rechtsfrage zu unterrichten. Zwei königliche Reſcripte ſchlugen dem Landtage
eine Neugeſtaltung der Allgemeinen Ständeverſammlung vor. Die Krone
wünſchte das Zweikammerſyſtem einzuführen, das neuerdings an den Höfen
als ein Bollwerk der Ordnung betrachtet wurde und im adlichen Han-
noverlande vollends unentbehrlich erſchien; dafür wollte ſie den freien
Bauern in der zweiten Kammer eine ſtärkere Vertretung gewähren. Da
der Landtag zwar von der Bildung zweier Kammern abrieth, aber keinen
förmlichen Einſpruch erhob, ſo ging die Regierung über ſeine Bedenken
hinweg, und ſie theilte ihre Entſcheidung nicht einmal den Allgemeinen
Ständen ſelber mit, ſondern den Provinziallandtagen. Dieſe Körper-
ſchaften, von denen Niemand wußte, wie weit ſie in allgemeinen Landes-
angelegenheiten mitzureden hatten, wurden alſo ſtillſchweigend dem Allge-
meinen Landtage gleichgeſtellt: ſo unſicher war das Recht in dieſem alt-
hiſtoriſchen Gemeinweſen.

Ein königliches Patent vom 7. December 1819 beſtimmte nunmehr
die endgiltige Zuſammenſetzung des Landtags. In der neuen erſten
Kammer ſaßen außer einigen Prälaten nur die Standesherren und die
Abgeordneten der Ritterſchaft. Da der welfiſche Adel niemals einen bür-
gerlichen Rittergutsbeſitzer wählte, ſo war hier das adliche Standesintereſſe
ſo einſeitig und ausſchließlich vertreten wie in keinem anderen deutſchen
Oberhauſe. In der zweiten Kammer ſollten auch zwanzig Vertreter des
freien bäuerlichen Grundbeſitzes tagen; doch währte es noch zehn Jahre bis
dieſe langſame Regierung ſich zur Einberufung der Bauern entſchloß. Die
Oſtfrieſen proteſtirten, die Vertreter ihres dritten Standes blieben dem Land-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0569" n="553"/><fw place="top" type="header">Zweite Verfa&#x017F;&#x017F;ungsänderung.</fw><lb/>
formvor&#x017F;chlägen im Landtage ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en wider&#x017F;prach. Ihren Einflü&#x017F;terun-<lb/>
gen gelang es, den Grafen Mün&#x017F;ter gegen Rehberg einzunehmen, der<lb/>
&#x017F;chon als Bürgerlicher verdächtig, bald als Liberaler verlä&#x017F;tert wurde, weil<lb/>
er doch einige behut&#x017F;ame Verbe&#x017F;&#x017F;erungen der be&#x017F;tehenden Mißbräuche<lb/>
wün&#x017F;chte. Im Jahre 1819, noch vor den Karlsbader Be&#x017F;chlü&#x017F;&#x017F;en, trat<lb/>
Rehberg tief gekränkt zurück, und fortan wurde Hannover von London<lb/>
aus regiert. Den Mini&#x017F;ter v. Bremer und die anderen Geheimen Räthe<lb/>
in Hannover behandelte Mün&#x017F;ter als Subalterne; auch der neue Cabinets-<lb/>
rath Ro&#x017F;e gewann, obwohl man &#x017F;eine Ge&#x017F;chäftstüchtigkeit gern benutzte, keinen<lb/>
ent&#x017F;cheidenden Einfluß. Die Beamten gewöhnten &#x017F;ich bald, über die Schul-<lb/>
tern des Mini&#x017F;teriums hinweg unmittelbar an die Deut&#x017F;che Canzlei in<lb/>
London zu berichten.</p><lb/>
          <p>Die er&#x017F;te That der Selb&#x017F;therr&#x017F;chaft Mün&#x017F;ter&#x2019;s war eine neue Ver-<lb/>
fa&#x017F;&#x017F;ungsänderung. Das neue Königreich be&#x017F;tand noch nicht fünf Jahre,<lb/>
und &#x017F;chon wurden die Grundlagen &#x017F;eines Staatsrechts zum zweiten male,<lb/>
und diesmal ohne zwingende Noth, durch die Krone eigenmächtig umge-<lb/>
&#x017F;taltet. Ohne Zweifel beab&#x017F;ichtigte Mün&#x017F;ter keine Rechtsverletzung, &#x017F;tand<lb/>
er doch &#x017F;elber als Erblandmar&#x017F;chall an der Spitze der Stände; er hielt<lb/>
es nur in &#x017F;einem &#x017F;taatsmänni&#x017F;chen Dünkel nicht für nöthig, &#x017F;ich über die<lb/>
Rechtsfrage zu unterrichten. Zwei königliche Re&#x017F;cripte &#x017F;chlugen dem Landtage<lb/>
eine Neuge&#x017F;taltung der Allgemeinen Ständever&#x017F;ammlung vor. Die Krone<lb/>
wün&#x017F;chte das Zweikammer&#x017F;y&#x017F;tem einzuführen, das neuerdings an den Höfen<lb/>
als ein Bollwerk der Ordnung betrachtet wurde und im adlichen Han-<lb/>
noverlande vollends unentbehrlich er&#x017F;chien; dafür wollte &#x017F;ie den freien<lb/>
Bauern in der zweiten Kammer eine &#x017F;tärkere Vertretung gewähren. Da<lb/>
der Landtag zwar von der Bildung zweier Kammern abrieth, aber keinen<lb/>
förmlichen Ein&#x017F;pruch erhob, &#x017F;o ging die Regierung über &#x017F;eine Bedenken<lb/>
hinweg, und &#x017F;ie theilte ihre Ent&#x017F;cheidung nicht einmal den Allgemeinen<lb/>
Ständen &#x017F;elber mit, &#x017F;ondern den Provinziallandtagen. Die&#x017F;e Körper-<lb/>
&#x017F;chaften, von denen Niemand wußte, wie weit &#x017F;ie in allgemeinen Landes-<lb/>
angelegenheiten mitzureden hatten, wurden al&#x017F;o &#x017F;till&#x017F;chweigend dem Allge-<lb/>
meinen Landtage gleichge&#x017F;tellt: &#x017F;o un&#x017F;icher war das Recht in die&#x017F;em alt-<lb/>
hi&#x017F;tori&#x017F;chen Gemeinwe&#x017F;en.</p><lb/>
          <p>Ein königliches Patent vom 7. December 1819 be&#x017F;timmte nunmehr<lb/>
die endgiltige Zu&#x017F;ammen&#x017F;etzung des Landtags. In der neuen er&#x017F;ten<lb/>
Kammer &#x017F;aßen außer einigen Prälaten nur die Standesherren und die<lb/>
Abgeordneten der Ritter&#x017F;chaft. Da der welfi&#x017F;che Adel niemals einen bür-<lb/>
gerlichen Rittergutsbe&#x017F;itzer wählte, &#x017F;o war hier das adliche Standesintere&#x017F;&#x017F;e<lb/>
&#x017F;o ein&#x017F;eitig und aus&#x017F;chließlich vertreten wie in keinem anderen deut&#x017F;chen<lb/>
Oberhau&#x017F;e. In der zweiten Kammer &#x017F;ollten auch zwanzig Vertreter des<lb/>
freien bäuerlichen Grundbe&#x017F;itzes tagen; doch währte es noch zehn Jahre bis<lb/>
die&#x017F;e lang&#x017F;ame Regierung &#x017F;ich zur Einberufung der Bauern ent&#x017F;chloß. Die<lb/>
O&#x017F;tfrie&#x017F;en prote&#x017F;tirten, die Vertreter ihres dritten Standes blieben dem Land-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[553/0569] Zweite Verfaſſungsänderung. formvorſchlägen im Landtage geſchloſſen widerſprach. Ihren Einflüſterun- gen gelang es, den Grafen Münſter gegen Rehberg einzunehmen, der ſchon als Bürgerlicher verdächtig, bald als Liberaler verläſtert wurde, weil er doch einige behutſame Verbeſſerungen der beſtehenden Mißbräuche wünſchte. Im Jahre 1819, noch vor den Karlsbader Beſchlüſſen, trat Rehberg tief gekränkt zurück, und fortan wurde Hannover von London aus regiert. Den Miniſter v. Bremer und die anderen Geheimen Räthe in Hannover behandelte Münſter als Subalterne; auch der neue Cabinets- rath Roſe gewann, obwohl man ſeine Geſchäftstüchtigkeit gern benutzte, keinen entſcheidenden Einfluß. Die Beamten gewöhnten ſich bald, über die Schul- tern des Miniſteriums hinweg unmittelbar an die Deutſche Canzlei in London zu berichten. Die erſte That der Selbſtherrſchaft Münſter’s war eine neue Ver- faſſungsänderung. Das neue Königreich beſtand noch nicht fünf Jahre, und ſchon wurden die Grundlagen ſeines Staatsrechts zum zweiten male, und diesmal ohne zwingende Noth, durch die Krone eigenmächtig umge- ſtaltet. Ohne Zweifel beabſichtigte Münſter keine Rechtsverletzung, ſtand er doch ſelber als Erblandmarſchall an der Spitze der Stände; er hielt es nur in ſeinem ſtaatsmänniſchen Dünkel nicht für nöthig, ſich über die Rechtsfrage zu unterrichten. Zwei königliche Reſcripte ſchlugen dem Landtage eine Neugeſtaltung der Allgemeinen Ständeverſammlung vor. Die Krone wünſchte das Zweikammerſyſtem einzuführen, das neuerdings an den Höfen als ein Bollwerk der Ordnung betrachtet wurde und im adlichen Han- noverlande vollends unentbehrlich erſchien; dafür wollte ſie den freien Bauern in der zweiten Kammer eine ſtärkere Vertretung gewähren. Da der Landtag zwar von der Bildung zweier Kammern abrieth, aber keinen förmlichen Einſpruch erhob, ſo ging die Regierung über ſeine Bedenken hinweg, und ſie theilte ihre Entſcheidung nicht einmal den Allgemeinen Ständen ſelber mit, ſondern den Provinziallandtagen. Dieſe Körper- ſchaften, von denen Niemand wußte, wie weit ſie in allgemeinen Landes- angelegenheiten mitzureden hatten, wurden alſo ſtillſchweigend dem Allge- meinen Landtage gleichgeſtellt: ſo unſicher war das Recht in dieſem alt- hiſtoriſchen Gemeinweſen. Ein königliches Patent vom 7. December 1819 beſtimmte nunmehr die endgiltige Zuſammenſetzung des Landtags. In der neuen erſten Kammer ſaßen außer einigen Prälaten nur die Standesherren und die Abgeordneten der Ritterſchaft. Da der welfiſche Adel niemals einen bür- gerlichen Rittergutsbeſitzer wählte, ſo war hier das adliche Standesintereſſe ſo einſeitig und ausſchließlich vertreten wie in keinem anderen deutſchen Oberhauſe. In der zweiten Kammer ſollten auch zwanzig Vertreter des freien bäuerlichen Grundbeſitzes tagen; doch währte es noch zehn Jahre bis dieſe langſame Regierung ſich zur Einberufung der Bauern entſchloß. Die Oſtfrieſen proteſtirten, die Vertreter ihres dritten Standes blieben dem Land-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/569
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 553. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/569>, abgerufen am 14.05.2024.