Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 3. Mannheim, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

Deklamator eilig anrief: "O was! das haben Sie ..?"
und ihm damit plötzlich den Strom der Rede im offnen
Munde stocken machte. Eine allgemeine Stille trat
auf einen Augenblick ein, Chamisso war wirklich aus
aller Fassung und sah bald Gurlitt, bald mich an, sein
Lachen kaum hinunterwürgend, und ich selbst hatte alle
Mühe, mit guter Art zuerst den lieben Alten zu be¬
deuten, jene Worte seien der Anfang von Goethe's
Faust, und worauf ich sie einige Zeilen weiter führte,
da es ja schiene, so sagte ich, als lasse das Gedächtniß
meines Freundes ihn im Stich. So hatte der grund¬
gelehrte Mann zuletzt noch eine zwar sehr verzeihliche
Unwissenheit bloßgeben müssen, die ihm aber doch em¬
pfindlich blieb, wiewohl bei weitem nicht in dem Maße,
als wenn seine Mißkennung irgend einen Spruch aus
dem Horaz oder Virgil betroffen hätte! Wir haben
des reichbelebten, bis tief in die Nacht hinein fortge¬
setzten Gastmahls seitdem noch oft mit frohem und
dankbarem Sinne gedacht, und uns dabei immer des
drolligen Vorganges gern erinnert, der unsrer Ver¬
ehrung und Zuneigung für den würdigen und theuern
Lehrer nicht im geringsten schaden konnte.

Der Aufenthalt in Hamburg hatte mich im Ganzen
wohlthätig erquickt und gestärkt, meinen Muth und
meine Vorsätze befestigt, und mir wurde in der heitern
Gemüthsstimmung der heranrückende Abschied minder
schmerzlich. Wir fuhren unter Freuden- und Segens¬

4 *

Deklamator eilig anrief: „O was! das haben Sie ..?“
und ihm damit ploͤtzlich den Strom der Rede im offnen
Munde ſtocken machte. Eine allgemeine Stille trat
auf einen Augenblick ein, Chamiſſo war wirklich aus
aller Faſſung und ſah bald Gurlitt, bald mich an, ſein
Lachen kaum hinunterwuͤrgend, und ich ſelbſt hatte alle
Muͤhe, mit guter Art zuerſt den lieben Alten zu be¬
deuten, jene Worte ſeien der Anfang von Goethe's
Fauſt, und worauf ich ſie einige Zeilen weiter fuͤhrte,
da es ja ſchiene, ſo ſagte ich, als laſſe das Gedaͤchtniß
meines Freundes ihn im Stich. So hatte der grund¬
gelehrte Mann zuletzt noch eine zwar ſehr verzeihliche
Unwiſſenheit bloßgeben muͤſſen, die ihm aber doch em¬
pfindlich blieb, wiewohl bei weitem nicht in dem Maße,
als wenn ſeine Mißkennung irgend einen Spruch aus
dem Horaz oder Virgil betroffen haͤtte! Wir haben
des reichbelebten, bis tief in die Nacht hinein fortge¬
ſetzten Gaſtmahls ſeitdem noch oft mit frohem und
dankbarem Sinne gedacht, und uns dabei immer des
drolligen Vorganges gern erinnert, der unſrer Ver¬
ehrung und Zuneigung fuͤr den wuͤrdigen und theuern
Lehrer nicht im geringſten ſchaden konnte.

Der Aufenthalt in Hamburg hatte mich im Ganzen
wohlthaͤtig erquickt und geſtaͤrkt, meinen Muth und
meine Vorſaͤtze befeſtigt, und mir wurde in der heitern
Gemuͤthsſtimmung der heranruͤckende Abſchied minder
ſchmerzlich. Wir fuhren unter Freuden- und Segens¬

4 *
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0063" n="51"/>
Deklamator eilig anrief: &#x201E;O was! das haben Sie ..?&#x201C;<lb/>
und ihm damit plo&#x0364;tzlich den Strom der Rede im offnen<lb/>
Munde &#x017F;tocken machte. Eine allgemeine Stille trat<lb/>
auf einen Augenblick ein, Chami&#x017F;&#x017F;o war wirklich aus<lb/>
aller Fa&#x017F;&#x017F;ung und &#x017F;ah bald Gurlitt, bald mich an, &#x017F;ein<lb/>
Lachen kaum hinunterwu&#x0364;rgend, und ich &#x017F;elb&#x017F;t hatte alle<lb/>
Mu&#x0364;he, mit guter Art zuer&#x017F;t den lieben Alten zu be¬<lb/>
deuten, jene Worte &#x017F;eien der Anfang von Goethe's<lb/>
Fau&#x017F;t, und worauf ich &#x017F;ie einige Zeilen weiter fu&#x0364;hrte,<lb/>
da es ja &#x017F;chiene, &#x017F;o &#x017F;agte ich, als la&#x017F;&#x017F;e das Geda&#x0364;chtniß<lb/>
meines Freundes ihn im Stich. So hatte der grund¬<lb/>
gelehrte Mann zuletzt noch eine zwar &#x017F;ehr verzeihliche<lb/>
Unwi&#x017F;&#x017F;enheit bloßgeben mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, die ihm aber doch em¬<lb/>
pfindlich blieb, wiewohl bei weitem nicht in dem Maße,<lb/>
als wenn &#x017F;eine Mißkennung irgend einen Spruch aus<lb/>
dem Horaz oder Virgil betroffen ha&#x0364;tte! Wir haben<lb/>
des reichbelebten, bis tief in die Nacht hinein fortge¬<lb/>
&#x017F;etzten Ga&#x017F;tmahls &#x017F;eitdem noch oft mit frohem und<lb/>
dankbarem Sinne gedacht, und uns dabei immer des<lb/>
drolligen Vorganges gern erinnert, der un&#x017F;rer Ver¬<lb/>
ehrung und Zuneigung fu&#x0364;r den wu&#x0364;rdigen und theuern<lb/>
Lehrer nicht im gering&#x017F;ten &#x017F;chaden konnte.</p><lb/>
          <p>Der Aufenthalt in Hamburg hatte mich im Ganzen<lb/>
wohltha&#x0364;tig erquickt und ge&#x017F;ta&#x0364;rkt, meinen Muth und<lb/>
meine Vor&#x017F;a&#x0364;tze befe&#x017F;tigt, und mir wurde in der heitern<lb/>
Gemu&#x0364;ths&#x017F;timmung der heranru&#x0364;ckende Ab&#x017F;chied minder<lb/>
&#x017F;chmerzlich. Wir fuhren unter Freuden- und Segens¬<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#b">4</hi> *<lb/></fw>
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[51/0063] Deklamator eilig anrief: „O was! das haben Sie ..?“ und ihm damit ploͤtzlich den Strom der Rede im offnen Munde ſtocken machte. Eine allgemeine Stille trat auf einen Augenblick ein, Chamiſſo war wirklich aus aller Faſſung und ſah bald Gurlitt, bald mich an, ſein Lachen kaum hinunterwuͤrgend, und ich ſelbſt hatte alle Muͤhe, mit guter Art zuerſt den lieben Alten zu be¬ deuten, jene Worte ſeien der Anfang von Goethe's Fauſt, und worauf ich ſie einige Zeilen weiter fuͤhrte, da es ja ſchiene, ſo ſagte ich, als laſſe das Gedaͤchtniß meines Freundes ihn im Stich. So hatte der grund¬ gelehrte Mann zuletzt noch eine zwar ſehr verzeihliche Unwiſſenheit bloßgeben muͤſſen, die ihm aber doch em¬ pfindlich blieb, wiewohl bei weitem nicht in dem Maße, als wenn ſeine Mißkennung irgend einen Spruch aus dem Horaz oder Virgil betroffen haͤtte! Wir haben des reichbelebten, bis tief in die Nacht hinein fortge¬ ſetzten Gaſtmahls ſeitdem noch oft mit frohem und dankbarem Sinne gedacht, und uns dabei immer des drolligen Vorganges gern erinnert, der unſrer Ver¬ ehrung und Zuneigung fuͤr den wuͤrdigen und theuern Lehrer nicht im geringſten ſchaden konnte. Der Aufenthalt in Hamburg hatte mich im Ganzen wohlthaͤtig erquickt und geſtaͤrkt, meinen Muth und meine Vorſaͤtze befeſtigt, und mir wurde in der heitern Gemuͤthsſtimmung der heranruͤckende Abſchied minder ſchmerzlich. Wir fuhren unter Freuden- und Segens¬ 4 *

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten03_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten03_1838/63
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 3. Mannheim, 1838, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten03_1838/63>, abgerufen am 30.04.2024.