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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834.

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von Einsicht durchströmten Empfindungen zu genießen, deren
ich gewahr wurde. Unendlich reizend und fruchtbar war diese
Erstlingszeit eines begeisterten Umganges, in welchem auch ich
die besten Güter zum Tausche brachte, die ich besaß, und in-
sofern kaum geringere, als ich empfing. Hier fand ich das
Wunder anzustaunen, daß Rahel, in gleichem Maße, als
Andre sich zu verstellen suchen, ihr wahres Innere zu enthüllen
strebte, von ihren Begegnissen, Leiden, Wünschen und Erwar-
tungen, mochten ihr dieselben auch zum Nachtheil auszulegen
sein, ja ihr selber als Gebrechen und Fehl erscheinen, mit eben
solcher Unbefangenheit und tiefen Wahrheit sprach, als hätte
sie nur Günstiges und Schmeichelhaftes anzuführen, sich nur
der schönsten Glückesfülle zu rühmen gehabt. Diese Aufrich-
tigkeit, derengleichen ich nie in einem andern Menschen wieder-
gesehen habe, und deren sogar J. J. Rousseau nur in schrift-
licher Mittheilung fähig gewesen zu sein scheint, konnte mich
sogar einigermaßen bedenklich und irre machen, indem oft
scharfe Härten aus den leidenschaftlichen Bekenntnissen hervor-
sprühten, und in dem Erlebten, wie in dem darüber Gedachten
ein eignes Element aufwogte, das als gewaltsam und scho-
nungslos leicht Mißempfindungen weckte, besonders wenn
man voraussetzte, daß, nach der gewöhnlichen Weise, auch hier
neben dem Ausgesprochenen noch Verschwiegenes im Hinter-
grunde liege. Dies war aber hier der Fall keineswegs;
Rahel sagte in Betreff ihrer selbst rücksichtslos die ganze
Wahrheit, und würde auch die beschämendste und nach-
theiligste, wäre eine solche vorhanden gewesen, demjenigen
nicht verhehlt haben, der im Bezeigen edlen Vertrauens und

ein-

von Einſicht durchſtrömten Empfindungen zu genießen, deren
ich gewahr wurde. Unendlich reizend und fruchtbar war dieſe
Erſtlingszeit eines begeiſterten Umganges, in welchem auch ich
die beſten Güter zum Tauſche brachte, die ich beſaß, und in-
ſofern kaum geringere, als ich empfing. Hier fand ich das
Wunder anzuſtaunen, daß Rahel, in gleichem Maße, als
Andre ſich zu verſtellen ſuchen, ihr wahres Innere zu enthüllen
ſtrebte, von ihren Begegniſſen, Leiden, Wünſchen und Erwar-
tungen, mochten ihr dieſelben auch zum Nachtheil auszulegen
ſein, ja ihr ſelber als Gebrechen und Fehl erſcheinen, mit eben
ſolcher Unbefangenheit und tiefen Wahrheit ſprach, als hätte
ſie nur Günſtiges und Schmeichelhaftes anzuführen, ſich nur
der ſchönſten Glückesfülle zu rühmen gehabt. Dieſe Aufrich-
tigkeit, derengleichen ich nie in einem andern Menſchen wieder-
geſehen habe, und deren ſogar J. J. Rouſſeau nur in ſchrift-
licher Mittheilung fähig geweſen zu ſein ſcheint, konnte mich
ſogar einigermaßen bedenklich und irre machen, indem oft
ſcharfe Härten aus den leidenſchaftlichen Bekenntniſſen hervor-
ſprühten, und in dem Erlebten, wie in dem darüber Gedachten
ein eignes Element aufwogte, das als gewaltſam und ſcho-
nungslos leicht Mißempfindungen weckte, beſonders wenn
man vorausſetzte, daß, nach der gewöhnlichen Weiſe, auch hier
neben dem Ausgeſprochenen noch Verſchwiegenes im Hinter-
grunde liege. Dies war aber hier der Fall keineswegs;
Rahel ſagte in Betreff ihrer ſelbſt rückſichtslos die ganze
Wahrheit, und würde auch die beſchämendſte und nach-
theiligſte, wäre eine ſolche vorhanden geweſen, demjenigen
nicht verhehlt haben, der im Bezeigen edlen Vertrauens und

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[16/0030] von Einſicht durchſtrömten Empfindungen zu genießen, deren ich gewahr wurde. Unendlich reizend und fruchtbar war dieſe Erſtlingszeit eines begeiſterten Umganges, in welchem auch ich die beſten Güter zum Tauſche brachte, die ich beſaß, und in- ſofern kaum geringere, als ich empfing. Hier fand ich das Wunder anzuſtaunen, daß Rahel, in gleichem Maße, als Andre ſich zu verſtellen ſuchen, ihr wahres Innere zu enthüllen ſtrebte, von ihren Begegniſſen, Leiden, Wünſchen und Erwar- tungen, mochten ihr dieſelben auch zum Nachtheil auszulegen ſein, ja ihr ſelber als Gebrechen und Fehl erſcheinen, mit eben ſolcher Unbefangenheit und tiefen Wahrheit ſprach, als hätte ſie nur Günſtiges und Schmeichelhaftes anzuführen, ſich nur der ſchönſten Glückesfülle zu rühmen gehabt. Dieſe Aufrich- tigkeit, derengleichen ich nie in einem andern Menſchen wieder- geſehen habe, und deren ſogar J. J. Rouſſeau nur in ſchrift- licher Mittheilung fähig geweſen zu ſein ſcheint, konnte mich ſogar einigermaßen bedenklich und irre machen, indem oft ſcharfe Härten aus den leidenſchaftlichen Bekenntniſſen hervor- ſprühten, und in dem Erlebten, wie in dem darüber Gedachten ein eignes Element aufwogte, das als gewaltſam und ſcho- nungslos leicht Mißempfindungen weckte, beſonders wenn man vorausſetzte, daß, nach der gewöhnlichen Weiſe, auch hier neben dem Ausgeſprochenen noch Verſchwiegenes im Hinter- grunde liege. Dies war aber hier der Fall keineswegs; Rahel ſagte in Betreff ihrer ſelbſt rückſichtslos die ganze Wahrheit, und würde auch die beſchämendſte und nach- theiligſte, wäre eine ſolche vorhanden geweſen, demjenigen nicht verhehlt haben, der im Bezeigen edlen Vertrauens und ein-

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/30>, abgerufen am 29.04.2024.