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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834.

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aus weg! Ich suche mir mit der größten Anstrengung Gesell-
schaft nach Böhmen. Goethe kommt ganz gewiß nach Karls-
bad, einen Sonnenblick muß meine Seele jetzt haben, ich werde
sonst wahnsinnig. Kann ich nach Böhmen nicht, so reis' ich
mit der vorhandenen Gelegenheit nach Amsterdam und von
dort nach Paris. Auf eine oder die andere Art. Schreib
mir also gleich, wie lange du noch bleibst!!

In dieser Stimmung, siehst du, kann ich keine Rezension
über Luther schreiben. Ich habe und hatte aber eine göttliche
im Kopf. So viel voraus! So viel Glück hat ein Deutscher
noch nie gehabt, einen Punkt zu finden, woraus sich das
erste, einzige
und das beste deutsche Nationalstück machen
ließ. Dieser Punkt ist Luther. Er, Deutschland, Deutschlands
Existenz, seine Litteratur, sein fragender Sinn, und seine wirk-
liche Geschichte, die aus des Landes Karakter hervorgeht, und
durch Luthers starken Ruf und Auftreten begann, und da sich
erst von allen andern Völkern trennte: ist Eins! Begreife,
welch ein Stück sich davon machen lassen kann! Niemand
konnte diesen Vorwurf verderben: -- ich hätte müssen ein
gutes Stück draus machen, -- Werner hat viel verfehlt; viel
geleistet; nichts verdorben. Er zeigt Geist: aber nur einen.
Auch haben ihm die Neuern sein wirkliches Talent behaucht.
Ich hoffe der reine Spiegel läßt sich noch abwischen. Ich hoffe
ihm das selbst zu sagen. Nun nichts mehr: über Christenheit
und Religion weiß ich noch manches; und in wie fern sie
auftreten kann. In jedem Fall ist es ein ganz anderes Stück-
chen, als die gute und auch beliebte Jungfer Orleans! Dies
Sujet meinte Schiller; und das Mädchen griff er. So denk

aus weg! Ich ſuche mir mit der größten Anſtrengung Geſell-
ſchaft nach Böhmen. Goethe kommt ganz gewiß nach Karls-
bad, einen Sonnenblick muß meine Seele jetzt haben, ich werde
ſonſt wahnſinnig. Kann ich nach Böhmen nicht, ſo reiſ’ ich
mit der vorhandenen Gelegenheit nach Amſterdam und von
dort nach Paris. Auf eine oder die andere Art. Schreib
mir alſo gleich, wie lange du noch bleibſt!!

In dieſer Stimmung, ſiehſt du, kann ich keine Rezenſion
über Luther ſchreiben. Ich habe und hatte aber eine göttliche
im Kopf. So viel voraus! So viel Glück hat ein Deutſcher
noch nie gehabt, einen Punkt zu finden, woraus ſich das
erſte, einzige
und das beſte deutſche Nationalſtück machen
ließ. Dieſer Punkt iſt Luther. Er, Deutſchland, Deutſchlands
Exiſtenz, ſeine Litteratur, ſein fragender Sinn, und ſeine wirk-
liche Geſchichte, die aus des Landes Karakter hervorgeht, und
durch Luthers ſtarken Ruf und Auftreten begann, und da ſich
erſt von allen andern Völkern trennte: iſt Eins! Begreife,
welch ein Stück ſich davon machen laſſen kann! Niemand
konnte dieſen Vorwurf verderben: — ich hätte müſſen ein
gutes Stück draus machen, — Werner hat viel verfehlt; viel
geleiſtet; nichts verdorben. Er zeigt Geiſt: aber nur einen.
Auch haben ihm die Neuern ſein wirkliches Talent behaucht.
Ich hoffe der reine Spiegel läßt ſich noch abwiſchen. Ich hoffe
ihm das ſelbſt zu ſagen. Nun nichts mehr: über Chriſtenheit
und Religion weiß ich noch manches; und in wie fern ſie
auftreten kann. In jedem Fall iſt es ein ganz anderes Stück-
chen, als die gute und auch beliebte Jungfer Orleans! Dies
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[292/0306] aus weg! Ich ſuche mir mit der größten Anſtrengung Geſell- ſchaft nach Böhmen. Goethe kommt ganz gewiß nach Karls- bad, einen Sonnenblick muß meine Seele jetzt haben, ich werde ſonſt wahnſinnig. Kann ich nach Böhmen nicht, ſo reiſ’ ich mit der vorhandenen Gelegenheit nach Amſterdam und von dort nach Paris. Auf eine oder die andere Art. Schreib mir alſo gleich, wie lange du noch bleibſt!! In dieſer Stimmung, ſiehſt du, kann ich keine Rezenſion über Luther ſchreiben. Ich habe und hatte aber eine göttliche im Kopf. So viel voraus! So viel Glück hat ein Deutſcher noch nie gehabt, einen Punkt zu finden, woraus ſich das erſte, einzige und das beſte deutſche Nationalſtück machen ließ. Dieſer Punkt iſt Luther. Er, Deutſchland, Deutſchlands Exiſtenz, ſeine Litteratur, ſein fragender Sinn, und ſeine wirk- liche Geſchichte, die aus des Landes Karakter hervorgeht, und durch Luthers ſtarken Ruf und Auftreten begann, und da ſich erſt von allen andern Völkern trennte: iſt Eins! Begreife, welch ein Stück ſich davon machen laſſen kann! Niemand konnte dieſen Vorwurf verderben: — ich hätte müſſen ein gutes Stück draus machen, — Werner hat viel verfehlt; viel geleiſtet; nichts verdorben. Er zeigt Geiſt: aber nur einen. Auch haben ihm die Neuern ſein wirkliches Talent behaucht. Ich hoffe der reine Spiegel läßt ſich noch abwiſchen. Ich hoffe ihm das ſelbſt zu ſagen. Nun nichts mehr: über Chriſtenheit und Religion weiß ich noch manches; und in wie fern ſie auftreten kann. In jedem Fall iſt es ein ganz anderes Stück- chen, als die gute und auch beliebte Jungfer Orleans! Dies Sujet meinte Schiller; und das Mädchen griff er. So denk

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 292. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/306>, abgerufen am 26.04.2024.