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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834.

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In den letzten vier Jahren besonders erkrankte Rahel
mehrmals ernstlich. Die Herstellung gelang meist nur auf
kürzere Zeit. Rheumatische und gichtische Schmerzen, dann
Beklemmungen und krampfhafte Anfälle der Brust, bildeten
sich zu stehenden Übeln aus, die nur selten ganz unterdrückt
schienen. Die Zwischenzeiten des Besserbefindens, in welchen
sie mit großer Schnellkraft bis zu einem gewissen Grade sich
zu erholen pflegte, wurden nach und nach kürzer, die Erho-
lung selbst unvollkommener. Für Andre war noch oft genug
die völlige Täuschung einer wahren Genesung möglich; sie
selbst auch gab willig den schönen Hoffnungen Gehör, die sich
ihr nahten, und mochte gern den guten Augenblick festhalten,
um frohen Muthes aller vergangenen und drohenden Leiden
zu vergessen, wie sie denn auch niemals ängstlichen und
düstern Vorstellungen über ihren eignen Zustand nachhing.
Allein sie kannte diesen besser, als sie es sagte, oder als sie
dafür, wenn sie es sagte, Glauben fand; denn dieser gute
Willen, diese freundliche Regsamkeit, dieser heitre Eifer, die
jeder guten Stunde sogleich wieder entquollen, mußten immer
neue Zuversicht gewähren. So wie nur eine menschliche Ge-
genwart sie in Anspruch nahm, eine Geistesregung, ein Ge-
müthsantheil sie ergriff, eine wenn auch noch so gering schei-
nende Beschäftigung ihr oblag, ein wohlwollendes, oft kaum
gefordertes, und vielleicht unerkanntes, aber von ihrem Herzen
gebotenes und in der Sache richtiges Leisten ihr eröffnet war:
sogleich erschien sie gesund und stark, und ihr inneres Leben
bedeckte durch überströmende Liebe den zunehmenden Verfall
des äußern.


In den letzten vier Jahren beſonders erkrankte Rahel
mehrmals ernſtlich. Die Herſtellung gelang meiſt nur auf
kürzere Zeit. Rheumatiſche und gichtiſche Schmerzen, dann
Beklemmungen und krampfhafte Anfälle der Bruſt, bildeten
ſich zu ſtehenden Übeln aus, die nur ſelten ganz unterdrückt
ſchienen. Die Zwiſchenzeiten des Beſſerbefindens, in welchen
ſie mit großer Schnellkraft bis zu einem gewiſſen Grade ſich
zu erholen pflegte, wurden nach und nach kürzer, die Erho-
lung ſelbſt unvollkommener. Für Andre war noch oft genug
die völlige Täuſchung einer wahren Geneſung möglich; ſie
ſelbſt auch gab willig den ſchönen Hoffnungen Gehör, die ſich
ihr nahten, und mochte gern den guten Augenblick feſthalten,
um frohen Muthes aller vergangenen und drohenden Leiden
zu vergeſſen, wie ſie denn auch niemals ängſtlichen und
düſtern Vorſtellungen über ihren eignen Zuſtand nachhing.
Allein ſie kannte dieſen beſſer, als ſie es ſagte, oder als ſie
dafür, wenn ſie es ſagte, Glauben fand; denn dieſer gute
Willen, dieſe freundliche Regſamkeit, dieſer heitre Eifer, die
jeder guten Stunde ſogleich wieder entquollen, mußten immer
neue Zuverſicht gewähren. So wie nur eine menſchliche Ge-
genwart ſie in Anſpruch nahm, eine Geiſtesregung, ein Ge-
müthsantheil ſie ergriff, eine wenn auch noch ſo gering ſchei-
nende Beſchäftigung ihr oblag, ein wohlwollendes, oft kaum
gefordertes, und vielleicht unerkanntes, aber von ihrem Herzen
gebotenes und in der Sache richtiges Leiſten ihr eröffnet war:
ſogleich erſchien ſie geſund und ſtark, und ihr inneres Leben
bedeckte durch überſtrömende Liebe den zunehmenden Verfall
des äußern.


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[31/0045] In den letzten vier Jahren beſonders erkrankte Rahel mehrmals ernſtlich. Die Herſtellung gelang meiſt nur auf kürzere Zeit. Rheumatiſche und gichtiſche Schmerzen, dann Beklemmungen und krampfhafte Anfälle der Bruſt, bildeten ſich zu ſtehenden Übeln aus, die nur ſelten ganz unterdrückt ſchienen. Die Zwiſchenzeiten des Beſſerbefindens, in welchen ſie mit großer Schnellkraft bis zu einem gewiſſen Grade ſich zu erholen pflegte, wurden nach und nach kürzer, die Erho- lung ſelbſt unvollkommener. Für Andre war noch oft genug die völlige Täuſchung einer wahren Geneſung möglich; ſie ſelbſt auch gab willig den ſchönen Hoffnungen Gehör, die ſich ihr nahten, und mochte gern den guten Augenblick feſthalten, um frohen Muthes aller vergangenen und drohenden Leiden zu vergeſſen, wie ſie denn auch niemals ängſtlichen und düſtern Vorſtellungen über ihren eignen Zuſtand nachhing. Allein ſie kannte dieſen beſſer, als ſie es ſagte, oder als ſie dafür, wenn ſie es ſagte, Glauben fand; denn dieſer gute Willen, dieſe freundliche Regſamkeit, dieſer heitre Eifer, die jeder guten Stunde ſogleich wieder entquollen, mußten immer neue Zuverſicht gewähren. So wie nur eine menſchliche Ge- genwart ſie in Anſpruch nahm, eine Geiſtesregung, ein Ge- müthsantheil ſie ergriff, eine wenn auch noch ſo gering ſchei- nende Beſchäftigung ihr oblag, ein wohlwollendes, oft kaum gefordertes, und vielleicht unerkanntes, aber von ihrem Herzen gebotenes und in der Sache richtiges Leiſten ihr eröffnet war: ſogleich erſchien ſie geſund und ſtark, und ihr inneres Leben bedeckte durch überſtrömende Liebe den zunehmenden Verfall des äußern.

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/45>, abgerufen am 29.04.2024.