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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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nicht mehr auf dem Boden steht, wo es als Dieses neben anderen Diesen
diesem Subjecte Begehren, jenem Verabscheuen einflößt. Hat das Sub-
ject nicht die Fähigkeit, den Gegenstand in diesem Geiste zu fassen, so
ist es seine Schuld, denn vorausgesetzt im Gegenstande ist das wahr-
haft Schöne.

Es scheint hart, auch das sittliche Interesse vom Schönen auszu-
schließen, besonders in unserer tendenzmäßigen Zeit, wo man ange-
fangen, die unmittelbare Erregung einer Begeisterung für sociale und
politische Erneuerung des Lebens für die Probe der Kunst zu halten.
Allein dies ist das Zeichen einer gährenden Epoche, welche zunächst nicht
zum Schönen, sondern zum Handeln berufen ist. Es gibt jedoch noch
einen andern, als den streng ästhetischen Standpunkt: den historischen,
und von diesem aus sind tendenzmäßige Werke und das Interesse, das
sie erregen, ganz anders und günstiger zu beurtheilen als von jenem.
In der Lehre von den Künsten wird für die Gattungen, worin durch
vorherrschende Tendenz das Schöne zum blos Anhängenden wird, ein
besonderer Raum aufzustellen seyn, womit denn auch das stoffartige In-
teresse, das sie erregen, in seine Berechtigung treten wird. Stoffartig
ist aber auch das sittliche Interesse am Schönen zu nennen. In §. 55
wurde nämlich zwar, um Verwirrung zu verhüten, der Ideengehalt im
Schönen nicht Stoff genannt, sondern blos die eigentliche Materie abgesehen
von der Form. Hütet man sich aber nur, Stoff in beiderlei Sinn zu ver-
wechseln, so kann allerdings auch die Idee oder die dargestellte sittliche
Macht, abgesehen davon, wie sie in reine Form aufgegangen ist, Stoff
genannt werden, ja es ist dies im jetzigen Zusammenhange ganz am
Orte, um zu zeigen, wie in der subjectiven Aufnahme des Schönen das
blos sinnliche und das einseitig moralische Verhalten in Einer Beziehung
gleich falsch sind, welche Beziehung eben eine stoffartige zu nennen ist.
Wer sich z. B. zu einem Epos oder Drama so verhält, daß er das
Ganze zerpflückt und danach aburtheilt, ob er gewisse Personen, die darin
auftreten, leiden kann oder nicht, der nimmt es stoffartig auf in der
Bedeutung der Sinnlichkeit; wer es aber zerpflückt, weil moralische Ach-
tung oder Mißachtung einzelner Personen oder Handlungen ihn nicht
zum Genusse des Ganzen gelangen läßt, der fehlt zwar aus anderem
Grunde, aber ästhetisch betrachtet in demselben Punkte wie der Erstere,
er verhält sich nämlich stoffartig. Die ganze Frage über die Einseitig-
keit des sittlichen Verhaltens erledigt sich übrigens einfach, wenn man
sich erinnert, daß hier nur subjectiv gewendet wird, was in §. 56--60

nicht mehr auf dem Boden ſteht, wo es als Dieſes neben anderen Dieſen
dieſem Subjecte Begehren, jenem Verabſcheuen einflößt. Hat das Sub-
ject nicht die Fähigkeit, den Gegenſtand in dieſem Geiſte zu faſſen, ſo
iſt es ſeine Schuld, denn vorausgeſetzt im Gegenſtande iſt das wahr-
haft Schöne.

Es ſcheint hart, auch das ſittliche Intereſſe vom Schönen auszu-
ſchließen, beſonders in unſerer tendenzmäßigen Zeit, wo man ange-
fangen, die unmittelbare Erregung einer Begeiſterung für ſociale und
politiſche Erneuerung des Lebens für die Probe der Kunſt zu halten.
Allein dies iſt das Zeichen einer gährenden Epoche, welche zunächſt nicht
zum Schönen, ſondern zum Handeln berufen iſt. Es gibt jedoch noch
einen andern, als den ſtreng äſthetiſchen Standpunkt: den hiſtoriſchen,
und von dieſem aus ſind tendenzmäßige Werke und das Intereſſe, das
ſie erregen, ganz anders und günſtiger zu beurtheilen als von jenem.
In der Lehre von den Künſten wird für die Gattungen, worin durch
vorherrſchende Tendenz das Schöne zum blos Anhängenden wird, ein
beſonderer Raum aufzuſtellen ſeyn, womit denn auch das ſtoffartige In-
tereſſe, das ſie erregen, in ſeine Berechtigung treten wird. Stoffartig
iſt aber auch das ſittliche Intereſſe am Schönen zu nennen. In §. 55
wurde nämlich zwar, um Verwirrung zu verhüten, der Ideengehalt im
Schönen nicht Stoff genannt, ſondern blos die eigentliche Materie abgeſehen
von der Form. Hütet man ſich aber nur, Stoff in beiderlei Sinn zu ver-
wechſeln, ſo kann allerdings auch die Idee oder die dargeſtellte ſittliche
Macht, abgeſehen davon, wie ſie in reine Form aufgegangen iſt, Stoff
genannt werden, ja es iſt dies im jetzigen Zuſammenhange ganz am
Orte, um zu zeigen, wie in der ſubjectiven Aufnahme des Schönen das
blos ſinnliche und das einſeitig moraliſche Verhalten in Einer Beziehung
gleich falſch ſind, welche Beziehung eben eine ſtoffartige zu nennen iſt.
Wer ſich z. B. zu einem Epos oder Drama ſo verhält, daß er das
Ganze zerpflückt und danach aburtheilt, ob er gewiſſe Perſonen, die darin
auftreten, leiden kann oder nicht, der nimmt es ſtoffartig auf in der
Bedeutung der Sinnlichkeit; wer es aber zerpflückt, weil moraliſche Ach-
tung oder Mißachtung einzelner Perſonen oder Handlungen ihn nicht
zum Genuſſe des Ganzen gelangen läßt, der fehlt zwar aus anderem
Grunde, aber äſthetiſch betrachtet in demſelben Punkte wie der Erſtere,
er verhält ſich nämlich ſtoffartig. Die ganze Frage über die Einſeitig-
keit des ſittlichen Verhaltens erledigt ſich übrigens einfach, wenn man
ſich erinnert, daß hier nur ſubjectiv gewendet wird, was in §. 56—60

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[197/0211] nicht mehr auf dem Boden ſteht, wo es als Dieſes neben anderen Dieſen dieſem Subjecte Begehren, jenem Verabſcheuen einflößt. Hat das Sub- ject nicht die Fähigkeit, den Gegenſtand in dieſem Geiſte zu faſſen, ſo iſt es ſeine Schuld, denn vorausgeſetzt im Gegenſtande iſt das wahr- haft Schöne. Es ſcheint hart, auch das ſittliche Intereſſe vom Schönen auszu- ſchließen, beſonders in unſerer tendenzmäßigen Zeit, wo man ange- fangen, die unmittelbare Erregung einer Begeiſterung für ſociale und politiſche Erneuerung des Lebens für die Probe der Kunſt zu halten. Allein dies iſt das Zeichen einer gährenden Epoche, welche zunächſt nicht zum Schönen, ſondern zum Handeln berufen iſt. Es gibt jedoch noch einen andern, als den ſtreng äſthetiſchen Standpunkt: den hiſtoriſchen, und von dieſem aus ſind tendenzmäßige Werke und das Intereſſe, das ſie erregen, ganz anders und günſtiger zu beurtheilen als von jenem. In der Lehre von den Künſten wird für die Gattungen, worin durch vorherrſchende Tendenz das Schöne zum blos Anhängenden wird, ein beſonderer Raum aufzuſtellen ſeyn, womit denn auch das ſtoffartige In- tereſſe, das ſie erregen, in ſeine Berechtigung treten wird. Stoffartig iſt aber auch das ſittliche Intereſſe am Schönen zu nennen. In §. 55 wurde nämlich zwar, um Verwirrung zu verhüten, der Ideengehalt im Schönen nicht Stoff genannt, ſondern blos die eigentliche Materie abgeſehen von der Form. Hütet man ſich aber nur, Stoff in beiderlei Sinn zu ver- wechſeln, ſo kann allerdings auch die Idee oder die dargeſtellte ſittliche Macht, abgeſehen davon, wie ſie in reine Form aufgegangen iſt, Stoff genannt werden, ja es iſt dies im jetzigen Zuſammenhange ganz am Orte, um zu zeigen, wie in der ſubjectiven Aufnahme des Schönen das blos ſinnliche und das einſeitig moraliſche Verhalten in Einer Beziehung gleich falſch ſind, welche Beziehung eben eine ſtoffartige zu nennen iſt. Wer ſich z. B. zu einem Epos oder Drama ſo verhält, daß er das Ganze zerpflückt und danach aburtheilt, ob er gewiſſe Perſonen, die darin auftreten, leiden kann oder nicht, der nimmt es ſtoffartig auf in der Bedeutung der Sinnlichkeit; wer es aber zerpflückt, weil moraliſche Ach- tung oder Mißachtung einzelner Perſonen oder Handlungen ihn nicht zum Genuſſe des Ganzen gelangen läßt, der fehlt zwar aus anderem Grunde, aber äſthetiſch betrachtet in demſelben Punkte wie der Erſtere, er verhält ſich nämlich ſtoffartig. Die ganze Frage über die Einſeitig- keit des ſittlichen Verhaltens erledigt ſich übrigens einfach, wenn man ſich erinnert, daß hier nur ſubjectiv gewendet wird, was in §. 56—60

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 197. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/211>, abgerufen am 01.05.2024.