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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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müßte denn unter dem Ethischen blos das Rechtsgebiet verstehen, was aber
bei Schleiermacher nicht der Fall ist. Schleiermacher hätte daher
dies Moment des Unterschieds vielmehr nur in die fließende Continuität
zwischen dem inneren Bilde und seiner Ausführung setzen sollen, welche
der Kunst vermöge des ihr inwohnenden Charakters der Absolutheit zu-
kommt, während der ethische Wille an der Außenwelt, welche er reell
zu verändern strebt, unendlichen Widerstand findet. Weiter bestimmt
Schleiermacher den Unterschied dahin, daß das praktische Leben durchaus
ein gebundenes, das Kunstleben aber ein Leben freier Productivität sey.
Jene Gebundenheit ist ein Sollen (S. 127.). Schleiermacher ver-
steht darunter das System der Pflichten im Staatsleben; von den Künst-
lern aber sagt er, gemeinsam sey ihnen allen das Zurückstoßen des
Bindenden (132); "schwerlich werden wir den für einen großen Künstler
halten, bei welchem wir eine streng pedantische Neigung finden, sich der
Sitte anzuschließen." Dieß Zurückweisen alles Bindenden soll aber der
Charakter des Künstlers seyn "unbeschadet des Ethischen", -- "denn
überall ist in der äußeren Sitte viel Willkührliches". Hiedurch wird
der Standpunkt verrückt, denn wenn das Bindende im ethischen Leben
vorzüglich das Willkührliche seyn soll, so erscheint die Bindung durch ein
Gesetzmäßiges als eine höhere, aber selbst noch sittliche Aufgabe. Die
wahre Meinung ist vielmehr offenbar die, daß das praktische Leben darum
ein gebundenes sey, weil es unter dem Gebote des Sollens, also in der
Dualität steht; die Individualität ist zwar auch in diesem Gebiete be-
rechtigt und darum kann der Künstler unbeschadet des Ethischen das
Bindende zurückweisen; aber die freie Ausbildung der Individualität ist,
vom spezifisch ethischen Standpunkte betrachtet, selbst wieder ein Sollen.
Dieser Begriff des Sollens fällt zusammen mit dem Begriffe des erst zu
vollführenden Zwecks und Schleiermacher sagt (S. 209. 210.): ein
rein selbstständiges Element, welches nirgends seine völlige Darstellung
findet, sucht dieselbe in der Kunst; -- hier ist die Selbstthätigkeit des
Geistes von allen Beziehungen auf Zweckmäßigkeit gesondert u. s. w.
Trotz dieser Einsicht in den Unterschied nun setzt Schleiermacher die
Aesthetik in die Ethik, und zwar, weil das agens in der Kunst der
menschliche Geist in seiner freien Thätigkeit sey. Schleiermacher
befaßt allerdings die ganze Lehre vom Geiste unter den Begriff der
Ethik, so wie er die ganze Naturwissenschaft unter dem Namen Physik
begreift; beide coordinirten Haupttheile subordinirt er der Dialektik oder
Metaphysik. Da er nun nachweist, daß die Aesthetik vielfach auf

müßte denn unter dem Ethiſchen blos das Rechtsgebiet verſtehen, was aber
bei Schleiermacher nicht der Fall iſt. Schleiermacher hätte daher
dies Moment des Unterſchieds vielmehr nur in die fließende Continuität
zwiſchen dem inneren Bilde und ſeiner Ausführung ſetzen ſollen, welche
der Kunſt vermöge des ihr inwohnenden Charakters der Abſolutheit zu-
kommt, während der ethiſche Wille an der Außenwelt, welche er reell
zu verändern ſtrebt, unendlichen Widerſtand findet. Weiter beſtimmt
Schleiermacher den Unterſchied dahin, daß das praktiſche Leben durchaus
ein gebundenes, das Kunſtleben aber ein Leben freier Productivität ſey.
Jene Gebundenheit iſt ein Sollen (S. 127.). Schleiermacher ver-
ſteht darunter das Syſtem der Pflichten im Staatsleben; von den Künſt-
lern aber ſagt er, gemeinſam ſey ihnen allen das Zurückſtoßen des
Bindenden (132); „ſchwerlich werden wir den für einen großen Künſtler
halten, bei welchem wir eine ſtreng pedantiſche Neigung finden, ſich der
Sitte anzuſchließen.“ Dieß Zurückweiſen alles Bindenden ſoll aber der
Charakter des Künſtlers ſeyn „unbeſchadet des Ethiſchen“, — „denn
überall iſt in der äußeren Sitte viel Willkührliches“. Hiedurch wird
der Standpunkt verrückt, denn wenn das Bindende im ethiſchen Leben
vorzüglich das Willkührliche ſeyn ſoll, ſo erſcheint die Bindung durch ein
Geſetzmäßiges als eine höhere, aber ſelbſt noch ſittliche Aufgabe. Die
wahre Meinung iſt vielmehr offenbar die, daß das praktiſche Leben darum
ein gebundenes ſey, weil es unter dem Gebote des Sollens, alſo in der
Dualität ſteht; die Individualität iſt zwar auch in dieſem Gebiete be-
rechtigt und darum kann der Künſtler unbeſchadet des Ethiſchen das
Bindende zurückweiſen; aber die freie Ausbildung der Individualität iſt,
vom ſpezifiſch ethiſchen Standpunkte betrachtet, ſelbſt wieder ein Sollen.
Dieſer Begriff des Sollens fällt zuſammen mit dem Begriffe des erſt zu
vollführenden Zwecks und Schleiermacher ſagt (S. 209. 210.): ein
rein ſelbſtſtändiges Element, welches nirgends ſeine völlige Darſtellung
findet, ſucht dieſelbe in der Kunſt; — hier iſt die Selbſtthätigkeit des
Geiſtes von allen Beziehungen auf Zweckmäßigkeit geſondert u. ſ. w.
Trotz dieſer Einſicht in den Unterſchied nun ſetzt Schleiermacher die
Aeſthetik in die Ethik, und zwar, weil das agens in der Kunſt der
menſchliche Geiſt in ſeiner freien Thätigkeit ſey. Schleiermacher
befaßt allerdings die ganze Lehre vom Geiſte unter den Begriff der
Ethik, ſo wie er die ganze Naturwiſſenſchaft unter dem Namen Phyſik
begreift; beide coordinirten Haupttheile ſubordinirt er der Dialektik oder
Metaphyſik. Da er nun nachweist, daß die Aeſthetik vielfach auf

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[11/0025] müßte denn unter dem Ethiſchen blos das Rechtsgebiet verſtehen, was aber bei Schleiermacher nicht der Fall iſt. Schleiermacher hätte daher dies Moment des Unterſchieds vielmehr nur in die fließende Continuität zwiſchen dem inneren Bilde und ſeiner Ausführung ſetzen ſollen, welche der Kunſt vermöge des ihr inwohnenden Charakters der Abſolutheit zu- kommt, während der ethiſche Wille an der Außenwelt, welche er reell zu verändern ſtrebt, unendlichen Widerſtand findet. Weiter beſtimmt Schleiermacher den Unterſchied dahin, daß das praktiſche Leben durchaus ein gebundenes, das Kunſtleben aber ein Leben freier Productivität ſey. Jene Gebundenheit iſt ein Sollen (S. 127.). Schleiermacher ver- ſteht darunter das Syſtem der Pflichten im Staatsleben; von den Künſt- lern aber ſagt er, gemeinſam ſey ihnen allen das Zurückſtoßen des Bindenden (132); „ſchwerlich werden wir den für einen großen Künſtler halten, bei welchem wir eine ſtreng pedantiſche Neigung finden, ſich der Sitte anzuſchließen.“ Dieß Zurückweiſen alles Bindenden ſoll aber der Charakter des Künſtlers ſeyn „unbeſchadet des Ethiſchen“, — „denn überall iſt in der äußeren Sitte viel Willkührliches“. Hiedurch wird der Standpunkt verrückt, denn wenn das Bindende im ethiſchen Leben vorzüglich das Willkührliche ſeyn ſoll, ſo erſcheint die Bindung durch ein Geſetzmäßiges als eine höhere, aber ſelbſt noch ſittliche Aufgabe. Die wahre Meinung iſt vielmehr offenbar die, daß das praktiſche Leben darum ein gebundenes ſey, weil es unter dem Gebote des Sollens, alſo in der Dualität ſteht; die Individualität iſt zwar auch in dieſem Gebiete be- rechtigt und darum kann der Künſtler unbeſchadet des Ethiſchen das Bindende zurückweiſen; aber die freie Ausbildung der Individualität iſt, vom ſpezifiſch ethiſchen Standpunkte betrachtet, ſelbſt wieder ein Sollen. Dieſer Begriff des Sollens fällt zuſammen mit dem Begriffe des erſt zu vollführenden Zwecks und Schleiermacher ſagt (S. 209. 210.): ein rein ſelbſtſtändiges Element, welches nirgends ſeine völlige Darſtellung findet, ſucht dieſelbe in der Kunſt; — hier iſt die Selbſtthätigkeit des Geiſtes von allen Beziehungen auf Zweckmäßigkeit geſondert u. ſ. w. Trotz dieſer Einſicht in den Unterſchied nun ſetzt Schleiermacher die Aeſthetik in die Ethik, und zwar, weil das agens in der Kunſt der menſchliche Geiſt in ſeiner freien Thätigkeit ſey. Schleiermacher befaßt allerdings die ganze Lehre vom Geiſte unter den Begriff der Ethik, ſo wie er die ganze Naturwiſſenſchaft unter dem Namen Phyſik begreift; beide coordinirten Haupttheile ſubordinirt er der Dialektik oder Metaphyſik. Da er nun nachweist, daß die Aeſthetik vielfach auf

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/25>, abgerufen am 27.04.2024.