Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

Bild:
<< vorherige Seite

denere und eine freiere Behandlungsweise einander gegenüberstehen. Aber
nur eine Analogie; denn hier handelt es sich nicht mehr um das rein
Technische der Composition, sondern um die streng formale Auffassung und
Behandlung, die im gebundenen wie im nichtgebundenen Styl dieselbe sein
kann, die aber allerdings vorzugsweise den erstern wählen wird, weil er
das Zurücktreten des Subjectiven, des Ausdrucksreichen, des Weichen u. s. w.,
also eben die formale Strenge, ganz von selbst in sich schließt. Streng ist
der musikalische Styl, wenn er die reine Form festhält im Gegensatze zu
ausmalenden Nüancirungen, wenn er in Melodie, Harmonie, Modulation,
Stimmführung, Rhythmus die Vielheit, Mannigfaltigkeit, Färbung, Figuri-
rung innerhalb der Grenzen stets festgehaltener Haupt- und Grundformen
zurückhält, so daß die Bewegung gebunden, beherrscht, in Schranken gehalten
erscheint durch diese sich stets gleich bleibende, alles Einzelne umklammernde,
keinem Einzelnen ein besonderes Heraustreten gestattende Grundform; na-
mentlich Bevorzugung der Haupt- und Grundaccorde, Vermeidung der
weniger einfachen Harmonieen, der Verzierungen, der entbehrlichen Ueber-
gänge, der in's Weite schweifenden Melodiebewegung, unruhig springender
Modulation, ausdrucksreicher dynamischer Mittel (S. 913.), gehört zum
strengen Styl, welcher übrigens etwas ganz Anderes ist als der in §. 792
verworfene Formalismus und namentlich nie ausdruckslos ist, da er sonst
kein Styl, sondern eine Abart wäre. Der hohe und der ideale Styl
bedarf dieses sich selbst gleiche, daher auch die Polyphonie bevorzugende
Feststehen allgemeiner Grundformen nicht; er ist noch weit weniger als der
strenge Styl blos positiv formal, formenvorführend, er geht ganz entschieden
mehr auf die Form überhaupt als auf gleichmäßige Anwendung und regel-
rechte Durchführung bestimmter Formengattungen, weil mit dem Hohen und
Idealen das Enge, Beschränktmethodische sich nicht verträgt, das in schlecht-
hiniger Unterwerfung unter gegebene Formen liegen würde, er braucht
dieselben auch, um große, breite, feste Grundverhältnisse an ihnen zu haben,
die der Tonbewegung einen Typus und Ausdruck des Ernsten und Gewich-
tigen verleihen, aber er gebraucht sie nur so weit, als sie dieß leisten, er
hat mit dem strengen gemein die Vermeidung der Individualisirung, aber
er strebt mehr nach Großheit, maaßvoller Einfachheit, reiner Durchsichtig-
keit überhaupt als nach Anwendung künstlicherer Behandlungsarten, ja er
wählt gerne einfachere Formen (wie z. B. Mozart in der Zauberflöte), um
mehr plastische Klarheit und idealen Schwung, den der strenge Styl immer
bis zu einem gewissen Grade niederhält, zu gewinnen. Indeß findet hier
zugleich der Unterschied statt, daß der hohe Styl der künstlichern Formen
sich noch mehr als der ideale bedient, weil er vorzugsweise dahin strebt, die
ganze Bewegung in festen Maaßen und Schranken zu halten und damit
alles Leichte, zu Bewegliche von ihr zu entfernen, ihr nicht nur Gewicht,

denere und eine freiere Behandlungsweiſe einander gegenüberſtehen. Aber
nur eine Analogie; denn hier handelt es ſich nicht mehr um das rein
Techniſche der Compoſition, ſondern um die ſtreng formale Auffaſſung und
Behandlung, die im gebundenen wie im nichtgebundenen Styl dieſelbe ſein
kann, die aber allerdings vorzugsweiſe den erſtern wählen wird, weil er
das Zurücktreten des Subjectiven, des Ausdrucksreichen, des Weichen u. ſ. w.,
alſo eben die formale Strenge, ganz von ſelbſt in ſich ſchließt. Streng iſt
der muſikaliſche Styl, wenn er die reine Form feſthält im Gegenſatze zu
ausmalenden Nüancirungen, wenn er in Melodie, Harmonie, Modulation,
Stimmführung, Rhythmus die Vielheit, Mannigfaltigkeit, Färbung, Figuri-
rung innerhalb der Grenzen ſtets feſtgehaltener Haupt- und Grundformen
zurückhält, ſo daß die Bewegung gebunden, beherrſcht, in Schranken gehalten
erſcheint durch dieſe ſich ſtets gleich bleibende, alles Einzelne umklammernde,
keinem Einzelnen ein beſonderes Heraustreten geſtattende Grundform; na-
mentlich Bevorzugung der Haupt- und Grundaccorde, Vermeidung der
weniger einfachen Harmonieen, der Verzierungen, der entbehrlichen Ueber-
gänge, der in’s Weite ſchweifenden Melodiebewegung, unruhig ſpringender
Modulation, ausdrucksreicher dynamiſcher Mittel (S. 913.), gehört zum
ſtrengen Styl, welcher übrigens etwas ganz Anderes iſt als der in §. 792
verworfene Formaliſmus und namentlich nie ausdruckslos iſt, da er ſonſt
kein Styl, ſondern eine Abart wäre. Der hohe und der ideale Styl
bedarf dieſes ſich ſelbſt gleiche, daher auch die Polyphonie bevorzugende
Feſtſtehen allgemeiner Grundformen nicht; er iſt noch weit weniger als der
ſtrenge Styl blos poſitiv formal, formenvorführend, er geht ganz entſchieden
mehr auf die Form überhaupt als auf gleichmäßige Anwendung und regel-
rechte Durchführung beſtimmter Formengattungen, weil mit dem Hohen und
Idealen das Enge, Beſchränktmethodiſche ſich nicht verträgt, das in ſchlecht-
hiniger Unterwerfung unter gegebene Formen liegen würde, er braucht
dieſelben auch, um große, breite, feſte Grundverhältniſſe an ihnen zu haben,
die der Tonbewegung einen Typus und Ausdruck des Ernſten und Gewich-
tigen verleihen, aber er gebraucht ſie nur ſo weit, als ſie dieß leiſten, er
hat mit dem ſtrengen gemein die Vermeidung der Individualiſirung, aber
er ſtrebt mehr nach Großheit, maaßvoller Einfachheit, reiner Durchſichtig-
keit überhaupt als nach Anwendung künſtlicherer Behandlungsarten, ja er
wählt gerne einfachere Formen (wie z. B. Mozart in der Zauberflöte), um
mehr plaſtiſche Klarheit und idealen Schwung, den der ſtrenge Styl immer
bis zu einem gewiſſen Grade niederhält, zu gewinnen. Indeß findet hier
zugleich der Unterſchied ſtatt, daß der hohe Styl der künſtlichern Formen
ſich noch mehr als der ideale bedient, weil er vorzugsweiſe dahin ſtrebt, die
ganze Bewegung in feſten Maaßen und Schranken zu halten und damit
alles Leichte, zu Bewegliche von ihr zu entfernen, ihr nicht nur Gewicht,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0211" n="973"/>
denere und eine freiere Behandlungswei&#x017F;e einander gegenüber&#x017F;tehen. Aber<lb/>
nur eine Analogie; denn hier handelt es &#x017F;ich nicht mehr um das rein<lb/>
Techni&#x017F;che der Compo&#x017F;ition, &#x017F;ondern um die &#x017F;treng formale Auffa&#x017F;&#x017F;ung und<lb/>
Behandlung, die im gebundenen wie im nichtgebundenen Styl die&#x017F;elbe &#x017F;ein<lb/>
kann, die aber allerdings vorzugswei&#x017F;e den er&#x017F;tern wählen wird, weil er<lb/>
das Zurücktreten des Subjectiven, des Ausdrucksreichen, des Weichen u. &#x017F;. w.,<lb/>
al&#x017F;o eben die formale Strenge, ganz von &#x017F;elb&#x017F;t in &#x017F;ich &#x017F;chließt. Streng i&#x017F;t<lb/>
der mu&#x017F;ikali&#x017F;che Styl, wenn er die reine Form fe&#x017F;thält im Gegen&#x017F;atze zu<lb/>
ausmalenden Nüancirungen, wenn er in Melodie, Harmonie, Modulation,<lb/>
Stimmführung, Rhythmus die Vielheit, Mannigfaltigkeit, Färbung, Figuri-<lb/>
rung innerhalb der Grenzen &#x017F;tets fe&#x017F;tgehaltener Haupt- und Grundformen<lb/>
zurückhält, &#x017F;o daß die Bewegung gebunden, beherr&#x017F;cht, in Schranken gehalten<lb/>
er&#x017F;cheint durch die&#x017F;e &#x017F;ich &#x017F;tets gleich bleibende, alles Einzelne umklammernde,<lb/>
keinem Einzelnen ein be&#x017F;onderes Heraustreten ge&#x017F;tattende Grundform; na-<lb/>
mentlich Bevorzugung der Haupt- und Grundaccorde, Vermeidung der<lb/>
weniger einfachen Harmonieen, der Verzierungen, der entbehrlichen Ueber-<lb/>
gänge, der in&#x2019;s Weite &#x017F;chweifenden Melodiebewegung, unruhig &#x017F;pringender<lb/>
Modulation, ausdrucksreicher dynami&#x017F;cher Mittel (S. 913.), gehört zum<lb/>
&#x017F;trengen Styl, welcher übrigens etwas ganz Anderes i&#x017F;t als der in §. 792<lb/>
verworfene Formali&#x017F;mus und namentlich nie ausdruckslos i&#x017F;t, da er &#x017F;on&#x017F;t<lb/>
kein Styl, &#x017F;ondern eine Abart wäre. Der <hi rendition="#g">hohe</hi> und der <hi rendition="#g">ideale Styl</hi><lb/>
bedarf die&#x017F;es &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t gleiche, daher auch die Polyphonie bevorzugende<lb/>
Fe&#x017F;t&#x017F;tehen allgemeiner Grundformen nicht; er i&#x017F;t noch weit weniger als der<lb/>
&#x017F;trenge Styl blos po&#x017F;itiv formal, formenvorführend, er geht ganz ent&#x017F;chieden<lb/>
mehr auf die Form überhaupt als auf gleichmäßige Anwendung und regel-<lb/>
rechte Durchführung be&#x017F;timmter Formengattungen, weil mit dem Hohen und<lb/>
Idealen das Enge, Be&#x017F;chränktmethodi&#x017F;che &#x017F;ich nicht verträgt, das in &#x017F;chlecht-<lb/>
hiniger Unterwerfung unter gegebene Formen liegen würde, er braucht<lb/>
die&#x017F;elben auch, um große, breite, fe&#x017F;te Grundverhältni&#x017F;&#x017F;e an ihnen zu haben,<lb/>
die der Tonbewegung einen Typus und Ausdruck des Ern&#x017F;ten und Gewich-<lb/>
tigen verleihen, aber er gebraucht &#x017F;ie nur &#x017F;o weit, als &#x017F;ie dieß lei&#x017F;ten, er<lb/>
hat mit dem &#x017F;trengen gemein die Vermeidung der Individuali&#x017F;irung, aber<lb/>
er &#x017F;trebt mehr nach Großheit, maaßvoller Einfachheit, reiner Durch&#x017F;ichtig-<lb/>
keit überhaupt als nach Anwendung kün&#x017F;tlicherer Behandlungsarten, ja er<lb/>
wählt gerne einfachere Formen (wie z. B. Mozart in der Zauberflöte), um<lb/>
mehr pla&#x017F;ti&#x017F;che Klarheit und idealen Schwung, den der &#x017F;trenge Styl immer<lb/>
bis zu einem gewi&#x017F;&#x017F;en Grade niederhält, zu gewinnen. Indeß findet hier<lb/>
zugleich der Unter&#x017F;chied &#x017F;tatt, daß der hohe Styl der kün&#x017F;tlichern Formen<lb/>
&#x017F;ich noch mehr als der ideale bedient, weil er vorzugswei&#x017F;e dahin &#x017F;trebt, die<lb/>
ganze Bewegung in fe&#x017F;ten Maaßen und Schranken zu halten und damit<lb/>
alles Leichte, zu Bewegliche von ihr zu entfernen, ihr nicht nur Gewicht,<lb/></hi> </p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[973/0211] denere und eine freiere Behandlungsweiſe einander gegenüberſtehen. Aber nur eine Analogie; denn hier handelt es ſich nicht mehr um das rein Techniſche der Compoſition, ſondern um die ſtreng formale Auffaſſung und Behandlung, die im gebundenen wie im nichtgebundenen Styl dieſelbe ſein kann, die aber allerdings vorzugsweiſe den erſtern wählen wird, weil er das Zurücktreten des Subjectiven, des Ausdrucksreichen, des Weichen u. ſ. w., alſo eben die formale Strenge, ganz von ſelbſt in ſich ſchließt. Streng iſt der muſikaliſche Styl, wenn er die reine Form feſthält im Gegenſatze zu ausmalenden Nüancirungen, wenn er in Melodie, Harmonie, Modulation, Stimmführung, Rhythmus die Vielheit, Mannigfaltigkeit, Färbung, Figuri- rung innerhalb der Grenzen ſtets feſtgehaltener Haupt- und Grundformen zurückhält, ſo daß die Bewegung gebunden, beherrſcht, in Schranken gehalten erſcheint durch dieſe ſich ſtets gleich bleibende, alles Einzelne umklammernde, keinem Einzelnen ein beſonderes Heraustreten geſtattende Grundform; na- mentlich Bevorzugung der Haupt- und Grundaccorde, Vermeidung der weniger einfachen Harmonieen, der Verzierungen, der entbehrlichen Ueber- gänge, der in’s Weite ſchweifenden Melodiebewegung, unruhig ſpringender Modulation, ausdrucksreicher dynamiſcher Mittel (S. 913.), gehört zum ſtrengen Styl, welcher übrigens etwas ganz Anderes iſt als der in §. 792 verworfene Formaliſmus und namentlich nie ausdruckslos iſt, da er ſonſt kein Styl, ſondern eine Abart wäre. Der hohe und der ideale Styl bedarf dieſes ſich ſelbſt gleiche, daher auch die Polyphonie bevorzugende Feſtſtehen allgemeiner Grundformen nicht; er iſt noch weit weniger als der ſtrenge Styl blos poſitiv formal, formenvorführend, er geht ganz entſchieden mehr auf die Form überhaupt als auf gleichmäßige Anwendung und regel- rechte Durchführung beſtimmter Formengattungen, weil mit dem Hohen und Idealen das Enge, Beſchränktmethodiſche ſich nicht verträgt, das in ſchlecht- hiniger Unterwerfung unter gegebene Formen liegen würde, er braucht dieſelben auch, um große, breite, feſte Grundverhältniſſe an ihnen zu haben, die der Tonbewegung einen Typus und Ausdruck des Ernſten und Gewich- tigen verleihen, aber er gebraucht ſie nur ſo weit, als ſie dieß leiſten, er hat mit dem ſtrengen gemein die Vermeidung der Individualiſirung, aber er ſtrebt mehr nach Großheit, maaßvoller Einfachheit, reiner Durchſichtig- keit überhaupt als nach Anwendung künſtlicherer Behandlungsarten, ja er wählt gerne einfachere Formen (wie z. B. Mozart in der Zauberflöte), um mehr plaſtiſche Klarheit und idealen Schwung, den der ſtrenge Styl immer bis zu einem gewiſſen Grade niederhält, zu gewinnen. Indeß findet hier zugleich der Unterſchied ſtatt, daß der hohe Styl der künſtlichern Formen ſich noch mehr als der ideale bedient, weil er vorzugsweiſe dahin ſtrebt, die ganze Bewegung in feſten Maaßen und Schranken zu halten und damit alles Leichte, zu Bewegliche von ihr zu entfernen, ihr nicht nur Gewicht,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/211
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 973. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/211>, abgerufen am 28.04.2024.