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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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Belassen wir es nun zunächst bei dieser gewöhnlichen Auffassung, so können
wir uns auf §. 269 (wo zum Unorganischen auch das Holz und Bestand-
theile des thierischen Leibs im vertrockneten, also unorganisch gewordenen
Zustande zu rechnen sind) und 290 (thierische Stimme), überhaupt aber
auf das allgemein Zugestandene berufen, daß Ansätze, Anklänge von
Melodie und Harmonie in der Natur hervortreten, aber nur, um alsbald
durch Absprung zum ganz Formlosen die Erwartung zu täuschen. Am
bestimmtesten klingt die rhythmische Seite, Takt und Tempo an (vergl.
§. 754, Anm.), aber auch dieß so ungeregelt und unvollkommen, daß an
eine künstlerische Verwendung nicht zu denken ist. Anders scheint sich die
Sache zu gestalten, wenn wir nach dem Menschen blicken: hier wäre, wenn
dem Musiker eine Stoffquelle in diesem Gebiet flöße, Inhalt und Form
verbunden: der empfindende Mensch und der Ton seiner Stimme sind
Eines. Allein der empfindende Mensch, als Stoff für den Musiker
gesetzt, drückt nicht seine Empfindung in Tönen aus, sofern er dieß thut,
ist er nicht Stoff für den Musiker, sondern selbst der Musiker. Er spricht
vielmehr und eben im Sprechen vermag er, wie wir ja deutlich erkannt,
sein Empfinden nur ganz unzulänglich anzudeuten. Die Sprache articulirt
den Ton durch die abschließende Kraft des Mitlauters zum Ausdruck des
Bewußtseins und nur mittelbar durch dieses zum Ausdruck des Gefühls.
So enthält die Sprache allerdings in begleitender Weise etwas von Ton
als Gefühlsausdruck: dieß ist der Tonfall und Rhythmus des Sprechens,
insbesondere des gehobenen Sprechens, des Declamirens. Dieß Element
ist jedoch eben dadurch, daß die Sprache wesentlich Ausdruck des Bewußt-
seins ist, in einer Weise bedingt, eingeschränkt, die man vom Standpuncte
der Musik eine völlige Alteration nennen muß. Es wird immer eine
zweckmäßige und feine Aufgabe sein, die Ansätze des Musikalischen im
Sinnbegleitenden Tone der Rede zu belauschen, wie neuerdings L. Köhler
(die Melodie der Sprache u. s. w.) und insbesondere werden solche Studien
gegeben sein, wenn es gilt, einem Zustande der Musik entgegenzutreten,
wo diese Kunst sich gewöhnt hat, in ihrer Verbindung mit dem Worte
statt eines freien Anschlusses in falscher Selbständigkeit willkührlich von
dessen Sinn abzuschweifen, ja im Widerspruch mit diesem sich breit zu
machen, sie werden uns z. B. zeigen, wie verkehrt es ist, eine sehnsucht-
volle Frage in bequem fallender Tonreihe auszudrücken u. s. w., allein,
wenn man meint, in diesem Gebiet ein durchgreifendes, positives Gesetz
suchen zu müssen, so befindet man sich in der falschen Voraussetzung, daß
in der Verbindung von Sprache und Ton die Poesie und die Musik zu
gleichen Theilen regieren, wie solche durch R. Wagner als Prinzip aufge-
stellt ist. Wir werden diese neue Theorie seines Orts auffassen, hier genügt
es, darauf hingewiesen zu haben, daß der Sprachtonfall nur verlorene

Belaſſen wir es nun zunächſt bei dieſer gewöhnlichen Auffaſſung, ſo können
wir uns auf §. 269 (wo zum Unorganiſchen auch das Holz und Beſtand-
theile des thieriſchen Leibs im vertrockneten, alſo unorganiſch gewordenen
Zuſtande zu rechnen ſind) und 290 (thieriſche Stimme), überhaupt aber
auf das allgemein Zugeſtandene berufen, daß Anſätze, Anklänge von
Melodie und Harmonie in der Natur hervortreten, aber nur, um alsbald
durch Abſprung zum ganz Formloſen die Erwartung zu täuſchen. Am
beſtimmteſten klingt die rhythmiſche Seite, Takt und Tempo an (vergl.
§. 754, Anm.), aber auch dieß ſo ungeregelt und unvollkommen, daß an
eine künſtleriſche Verwendung nicht zu denken iſt. Anders ſcheint ſich die
Sache zu geſtalten, wenn wir nach dem Menſchen blicken: hier wäre, wenn
dem Muſiker eine Stoffquelle in dieſem Gebiet flöße, Inhalt und Form
verbunden: der empfindende Menſch und der Ton ſeiner Stimme ſind
Eines. Allein der empfindende Menſch, als Stoff für den Muſiker
geſetzt, drückt nicht ſeine Empfindung in Tönen aus, ſofern er dieß thut,
iſt er nicht Stoff für den Muſiker, ſondern ſelbſt der Muſiker. Er ſpricht
vielmehr und eben im Sprechen vermag er, wie wir ja deutlich erkannt,
ſein Empfinden nur ganz unzulänglich anzudeuten. Die Sprache articulirt
den Ton durch die abſchließende Kraft des Mitlauters zum Ausdruck des
Bewußtſeins und nur mittelbar durch dieſes zum Ausdruck des Gefühls.
So enthält die Sprache allerdings in begleitender Weiſe etwas von Ton
als Gefühlsausdruck: dieß iſt der Tonfall und Rhythmus des Sprechens,
insbeſondere des gehobenen Sprechens, des Declamirens. Dieß Element
iſt jedoch eben dadurch, daß die Sprache weſentlich Ausdruck des Bewußt-
ſeins iſt, in einer Weiſe bedingt, eingeſchränkt, die man vom Standpuncte
der Muſik eine völlige Alteration nennen muß. Es wird immer eine
zweckmäßige und feine Aufgabe ſein, die Anſätze des Muſikaliſchen im
Sinnbegleitenden Tone der Rede zu belauſchen, wie neuerdings L. Köhler
(die Melodie der Sprache u. ſ. w.) und insbeſondere werden ſolche Studien
gegeben ſein, wenn es gilt, einem Zuſtande der Muſik entgegenzutreten,
wo dieſe Kunſt ſich gewöhnt hat, in ihrer Verbindung mit dem Worte
ſtatt eines freien Anſchluſſes in falſcher Selbſtändigkeit willkührlich von
deſſen Sinn abzuſchweifen, ja im Widerſpruch mit dieſem ſich breit zu
machen, ſie werden uns z. B. zeigen, wie verkehrt es iſt, eine ſehnſucht-
volle Frage in bequem fallender Tonreihe auszudrücken u. ſ. w., allein,
wenn man meint, in dieſem Gebiet ein durchgreifendes, poſitives Geſetz
ſuchen zu müſſen, ſo befindet man ſich in der falſchen Vorausſetzung, daß
in der Verbindung von Sprache und Ton die Poeſie und die Muſik zu
gleichen Theilen regieren, wie ſolche durch R. Wagner als Prinzip aufge-
ſtellt iſt. Wir werden dieſe neue Theorie ſeines Orts auffaſſen, hier genügt
es, darauf hingewieſen zu haben, daß der Sprachtonfall nur verlorene

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[815/0053] Belaſſen wir es nun zunächſt bei dieſer gewöhnlichen Auffaſſung, ſo können wir uns auf §. 269 (wo zum Unorganiſchen auch das Holz und Beſtand- theile des thieriſchen Leibs im vertrockneten, alſo unorganiſch gewordenen Zuſtande zu rechnen ſind) und 290 (thieriſche Stimme), überhaupt aber auf das allgemein Zugeſtandene berufen, daß Anſätze, Anklänge von Melodie und Harmonie in der Natur hervortreten, aber nur, um alsbald durch Abſprung zum ganz Formloſen die Erwartung zu täuſchen. Am beſtimmteſten klingt die rhythmiſche Seite, Takt und Tempo an (vergl. §. 754, Anm.), aber auch dieß ſo ungeregelt und unvollkommen, daß an eine künſtleriſche Verwendung nicht zu denken iſt. Anders ſcheint ſich die Sache zu geſtalten, wenn wir nach dem Menſchen blicken: hier wäre, wenn dem Muſiker eine Stoffquelle in dieſem Gebiet flöße, Inhalt und Form verbunden: der empfindende Menſch und der Ton ſeiner Stimme ſind Eines. Allein der empfindende Menſch, als Stoff für den Muſiker geſetzt, drückt nicht ſeine Empfindung in Tönen aus, ſofern er dieß thut, iſt er nicht Stoff für den Muſiker, ſondern ſelbſt der Muſiker. Er ſpricht vielmehr und eben im Sprechen vermag er, wie wir ja deutlich erkannt, ſein Empfinden nur ganz unzulänglich anzudeuten. Die Sprache articulirt den Ton durch die abſchließende Kraft des Mitlauters zum Ausdruck des Bewußtſeins und nur mittelbar durch dieſes zum Ausdruck des Gefühls. So enthält die Sprache allerdings in begleitender Weiſe etwas von Ton als Gefühlsausdruck: dieß iſt der Tonfall und Rhythmus des Sprechens, insbeſondere des gehobenen Sprechens, des Declamirens. Dieß Element iſt jedoch eben dadurch, daß die Sprache weſentlich Ausdruck des Bewußt- ſeins iſt, in einer Weiſe bedingt, eingeſchränkt, die man vom Standpuncte der Muſik eine völlige Alteration nennen muß. Es wird immer eine zweckmäßige und feine Aufgabe ſein, die Anſätze des Muſikaliſchen im Sinnbegleitenden Tone der Rede zu belauſchen, wie neuerdings L. Köhler (die Melodie der Sprache u. ſ. w.) und insbeſondere werden ſolche Studien gegeben ſein, wenn es gilt, einem Zuſtande der Muſik entgegenzutreten, wo dieſe Kunſt ſich gewöhnt hat, in ihrer Verbindung mit dem Worte ſtatt eines freien Anſchluſſes in falſcher Selbſtändigkeit willkührlich von deſſen Sinn abzuſchweifen, ja im Widerſpruch mit dieſem ſich breit zu machen, ſie werden uns z. B. zeigen, wie verkehrt es iſt, eine ſehnſucht- volle Frage in bequem fallender Tonreihe auszudrücken u. ſ. w., allein, wenn man meint, in dieſem Gebiet ein durchgreifendes, poſitives Geſetz ſuchen zu müſſen, ſo befindet man ſich in der falſchen Vorausſetzung, daß in der Verbindung von Sprache und Ton die Poeſie und die Muſik zu gleichen Theilen regieren, wie ſolche durch R. Wagner als Prinzip aufge- ſtellt iſt. Wir werden dieſe neue Theorie ſeines Orts auffaſſen, hier genügt es, darauf hingewieſen zu haben, daß der Sprachtonfall nur verlorene

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 815. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/53>, abgerufen am 29.04.2024.