Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_289.001 pwa_289.018 1 pwa_289.037
Eigentlich und ausdrücklich spricht davon mit Bezug auf gerichtliche Reden pwa_289.038 Cicero de invent. 1, 22. Recte habita in causa partitio (ganze Exposition) illustrem pwa_289.039 et perspicuam totam efficit orationem. Eius partes duae sunt, quarum utraque pwa_289.040 magnopere ad aperiendam causam et ad constituendam pertinet controversiam etc. pwa_289.001 pwa_289.018 1 pwa_289.037
Eigentlich und ausdrücklich spricht davon mit Bezug auf gerichtliche Reden pwa_289.038 Cicero de invent. 1, 22. Recte habita in causa partitio (ganze Exposition) illustrem pwa_289.039 et perspicuam totam efficit orationem. Eius partes duae sunt, quarum utraque pwa_289.040 magnopere ad aperiendam causam et ad constituendam pertinet controversiam etc. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0307" n="289"/><lb n="pwa_289.001"/> heisst nach dem einmal angenommenen Sprachgebrauch die geistliche <lb n="pwa_289.002"/> Rede, wenn der Text eine ausgedehntere Mannigfaltigkeit besitzt und <lb n="pwa_289.003"/> deshalb nicht auf eben solche Art in Einen Hauptgedanken concentriert <lb n="pwa_289.004"/> wird, sondern der Redner sich begnügt, dem Gange seines Textes <lb n="pwa_289.005"/> Schritt für Schritt zu folgen und einen Gedanken desselben nach dem <lb n="pwa_289.006"/> andern zu besprechen. Dabei mag der Redner sich selbst sehr wohl <lb n="pwa_289.007"/> eines leitenden Hauptgedankens bewusst sein, er mag auch aus diesem <lb n="pwa_289.008"/> Bewusstsein heraus den ganzen Gang der vereinzelten Betrachtungen <lb n="pwa_289.009"/> ordnen und lenken und leiten, aber er spricht jenen Einen <lb n="pwa_289.010"/> Gedanken nicht aus, weil damit auch sogleich der gewöhnliche systematische <lb n="pwa_289.011"/> Bau der Predigt gefordert wäre. Natürlich ist bei dieser <lb n="pwa_289.012"/> Auffassung des Textes, also für die Homilie, keine eigentliche expositio <lb n="pwa_289.013"/> möglich, sondern es wird hier von der narratio facti gleich zur disputatio, <lb n="pwa_289.014"/> von dem Texte gleich zur Ausführung übergegangen, und auch <lb n="pwa_289.015"/> die Ausführung wird hier, wo es sich nicht um die Erklärung Eines <lb n="pwa_289.016"/> Gedankens handelt, eine ganz andere sein als sonst, als in eigentlichen <lb n="pwa_289.017"/> Predigten.</p> <p><lb n="pwa_289.018"/> Es kann aber, wie schon früher (S. 283) ist bemerkt worden, die <lb n="pwa_289.019"/> expositio wieder in zwei untergeordnete Glieder zerfallen, in die <hi rendition="#i">propositio</hi> <lb n="pwa_289.020"/> und in die <hi rendition="#i">partitio.</hi> In diesem Falle ist die expositio noch weit <lb n="pwa_289.021"/> absichtlicher und deutlicher bloss die voranlaufende Ankündigung des <lb n="pwa_289.022"/> zweiten Haupttheiles; sie erscheint damit gleichsam als ein blosses <lb n="pwa_289.023"/> Inhaltsverzeichniss desselben. Die weltliche Redekunst weiss von einer <lb n="pwa_289.024"/> solchen Partition nur wenig; man wird in ihr nur seltene Beispiele <lb n="pwa_289.025"/> davon finden, und so gedenken auch die Rhetoriker des Alterthums <lb n="pwa_289.026"/> derselben nicht oft als eines oratorischen Erfordernisses.<note xml:id="pwa_289_1" place="foot" n="1"><lb n="pwa_289.037"/> Eigentlich und ausdrücklich spricht davon mit Bezug auf gerichtliche Reden <lb n="pwa_289.038"/> Cicero de invent. 1, 22. Recte habita in causa partitio (ganze Exposition) illustrem <lb n="pwa_289.039"/> et perspicuam totam efficit orationem. Eius partes duae sunt, quarum utraque <lb n="pwa_289.040"/> magnopere ad aperiendam causam et ad constituendam pertinet controversiam etc.</note> Dagegen in <lb n="pwa_289.027"/> unserer geistlichen Redekunst ist sie zu einer so weit verbreiteten Uebung <lb n="pwa_289.028"/> geworden, Prediger und Gemeinde haben sich fast überall so daran <lb n="pwa_289.029"/> gewöhnt, dass man sie hier beinahe als ein Gesetz betrachten muss, <lb n="pwa_289.030"/> dem die Praxis sich zu unterwerfen und dessen Nutzen und Nothwendigkeit <lb n="pwa_289.031"/> die Theorie aufzusuchen habe. Allerdings lässt sich auch <lb n="pwa_289.032"/> Manches wenigstens zur Rechtfertigung dieses Gebrauches sagen. <lb n="pwa_289.033"/> Quintilian (Institut. orator. 4, 5) macht geltend, wenn die einzelnen <lb n="pwa_289.034"/> Theile schon im voraus aufgestellt und bezeichnet seien, so erhalte <lb n="pwa_289.035"/> das den Zuhörer während der Ausführung bei Kräften, weil er die <lb n="pwa_289.036"/> einzelnen Abgrenzungen wisse, „grade wie einem Reisenden die Meilensteine </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [289/0307]
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heisst nach dem einmal angenommenen Sprachgebrauch die geistliche pwa_289.002
Rede, wenn der Text eine ausgedehntere Mannigfaltigkeit besitzt und pwa_289.003
deshalb nicht auf eben solche Art in Einen Hauptgedanken concentriert pwa_289.004
wird, sondern der Redner sich begnügt, dem Gange seines Textes pwa_289.005
Schritt für Schritt zu folgen und einen Gedanken desselben nach dem pwa_289.006
andern zu besprechen. Dabei mag der Redner sich selbst sehr wohl pwa_289.007
eines leitenden Hauptgedankens bewusst sein, er mag auch aus diesem pwa_289.008
Bewusstsein heraus den ganzen Gang der vereinzelten Betrachtungen pwa_289.009
ordnen und lenken und leiten, aber er spricht jenen Einen pwa_289.010
Gedanken nicht aus, weil damit auch sogleich der gewöhnliche systematische pwa_289.011
Bau der Predigt gefordert wäre. Natürlich ist bei dieser pwa_289.012
Auffassung des Textes, also für die Homilie, keine eigentliche expositio pwa_289.013
möglich, sondern es wird hier von der narratio facti gleich zur disputatio, pwa_289.014
von dem Texte gleich zur Ausführung übergegangen, und auch pwa_289.015
die Ausführung wird hier, wo es sich nicht um die Erklärung Eines pwa_289.016
Gedankens handelt, eine ganz andere sein als sonst, als in eigentlichen pwa_289.017
Predigten.
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Es kann aber, wie schon früher (S. 283) ist bemerkt worden, die pwa_289.019
expositio wieder in zwei untergeordnete Glieder zerfallen, in die propositio pwa_289.020
und in die partitio. In diesem Falle ist die expositio noch weit pwa_289.021
absichtlicher und deutlicher bloss die voranlaufende Ankündigung des pwa_289.022
zweiten Haupttheiles; sie erscheint damit gleichsam als ein blosses pwa_289.023
Inhaltsverzeichniss desselben. Die weltliche Redekunst weiss von einer pwa_289.024
solchen Partition nur wenig; man wird in ihr nur seltene Beispiele pwa_289.025
davon finden, und so gedenken auch die Rhetoriker des Alterthums pwa_289.026
derselben nicht oft als eines oratorischen Erfordernisses. 1 Dagegen in pwa_289.027
unserer geistlichen Redekunst ist sie zu einer so weit verbreiteten Uebung pwa_289.028
geworden, Prediger und Gemeinde haben sich fast überall so daran pwa_289.029
gewöhnt, dass man sie hier beinahe als ein Gesetz betrachten muss, pwa_289.030
dem die Praxis sich zu unterwerfen und dessen Nutzen und Nothwendigkeit pwa_289.031
die Theorie aufzusuchen habe. Allerdings lässt sich auch pwa_289.032
Manches wenigstens zur Rechtfertigung dieses Gebrauches sagen. pwa_289.033
Quintilian (Institut. orator. 4, 5) macht geltend, wenn die einzelnen pwa_289.034
Theile schon im voraus aufgestellt und bezeichnet seien, so erhalte pwa_289.035
das den Zuhörer während der Ausführung bei Kräften, weil er die pwa_289.036
einzelnen Abgrenzungen wisse, „grade wie einem Reisenden die Meilensteine
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